Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.Einleitung. nicht leicht verletzen; aber freilich müssen wirjetzt, da verdorbene Generationen und Bücher voran gegangen sind, und edlere Menschen die Verwerflichkeit mancher schamlosen Produkte eines Diderot, Voltaire und andrer einsahn, um nur den Ruhm der Züchtigkeit zu empfangen, auch den Schein einer gewissen Prüderie beibehalten, die das Zeitalter einmal zum Kennzeichen der Sitte gestempelt hat. So hat der Mensch nach überstandener Krankheit noch lange das Ansehn eines Kranken, und muß auf einige Zeit noch etwas von dessen Diät beibehalten. Eben so verbreitete sich in England nach einem Zeitalter der Zügellosigkeit, von der Sekte der Puritaner aus, eine Aengstlichkeit und steife Feierlichkeit der Sitte, die seitdem noch immer das Wort führt, so daß ein gesittetes Mädchen oder eine züchtige Frau von jetzt oder aus Shakspears Zeit zwei im Aeußern sehr verschiedene Wesen sein mögen. Die Reformation hatte in Deutschland schon frü- her eine ähnliche Stimmung hervor gebracht, und auch die katholischen Provinzen bestrebten sich seitdem, eine strengere Sitte zur Schau zu tra- gen, um von dieser Seite die Vorwürfe ihrer Gegner zu entkräften. Fast allenthalben aber werden wir nur Heuchelei statt der Züchtigkeit gewahr, denn wenn die ehrbaren Herren unter sich sind, ergötzen sie sich um so lebhafter an der rohesten und unsittlichsten Frechheit, und weil der öffentliche Scherz und die Gegenwart Einleitung. nicht leicht verletzen; aber freilich muͤſſen wirjetzt, da verdorbene Generationen und Buͤcher voran gegangen ſind, und edlere Menſchen die Verwerflichkeit mancher ſchamloſen Produkte eines Diderot, Voltaire und andrer einſahn, um nur den Ruhm der Zuͤchtigkeit zu empfangen, auch den Schein einer gewiſſen Pruͤderie beibehalten, die das Zeitalter einmal zum Kennzeichen der Sitte geſtempelt hat. So hat der Menſch nach uͤberſtandener Krankheit noch lange das Anſehn eines Kranken, und muß auf einige Zeit noch etwas von deſſen Diaͤt beibehalten. Eben ſo verbreitete ſich in England nach einem Zeitalter der Zuͤgelloſigkeit, von der Sekte der Puritaner aus, eine Aengſtlichkeit und ſteife Feierlichkeit der Sitte, die ſeitdem noch immer das Wort fuͤhrt, ſo daß ein geſittetes Maͤdchen oder eine zuͤchtige Frau von jetzt oder aus Shakſpears Zeit zwei im Aeußern ſehr verſchiedene Weſen ſein moͤgen. Die Reformation hatte in Deutſchland ſchon fruͤ- her eine aͤhnliche Stimmung hervor gebracht, und auch die katholiſchen Provinzen beſtrebten ſich ſeitdem, eine ſtrengere Sitte zur Schau zu tra- gen, um von dieſer Seite die Vorwuͤrfe ihrer Gegner zu entkraͤften. Faſt allenthalben aber werden wir nur Heuchelei ſtatt der Zuͤchtigkeit gewahr, denn wenn die ehrbaren Herren unter ſich ſind, ergoͤtzen ſie ſich um ſo lebhafter an der roheſten und unſittlichſten Frechheit, und weil der oͤffentliche Scherz und die Gegenwart <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0138" n="127"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Einleitung</hi>.</fw><lb/> nicht leicht verletzen; aber freilich muͤſſen wir<lb/> jetzt, da verdorbene Generationen und Buͤcher<lb/> voran gegangen ſind, und edlere Menſchen die<lb/> Verwerflichkeit mancher ſchamloſen Produkte eines<lb/> Diderot, Voltaire und andrer einſahn, um nur<lb/> den Ruhm der Zuͤchtigkeit zu empfangen, auch<lb/> den Schein einer gewiſſen Pruͤderie beibehalten,<lb/> die das Zeitalter einmal zum Kennzeichen der<lb/> Sitte geſtempelt hat. So hat der Menſch nach<lb/> uͤberſtandener Krankheit noch lange das Anſehn<lb/> eines Kranken, und muß auf einige Zeit noch<lb/> etwas von deſſen Diaͤt beibehalten. Eben ſo<lb/> verbreitete ſich in England nach einem Zeitalter<lb/> der Zuͤgelloſigkeit, von der Sekte der Puritaner<lb/> aus, eine Aengſtlichkeit und ſteife Feierlichkeit der<lb/> Sitte, die ſeitdem noch immer das Wort fuͤhrt,<lb/> ſo daß ein geſittetes Maͤdchen oder eine zuͤchtige<lb/> Frau von jetzt oder aus Shakſpears Zeit zwei<lb/> im Aeußern ſehr verſchiedene Weſen ſein moͤgen.<lb/> Die Reformation hatte in Deutſchland ſchon fruͤ-<lb/> her eine aͤhnliche Stimmung hervor gebracht, und<lb/> auch die katholiſchen Provinzen beſtrebten ſich<lb/> ſeitdem, eine ſtrengere Sitte zur Schau zu tra-<lb/> gen, um von dieſer Seite die Vorwuͤrfe ihrer<lb/> Gegner zu entkraͤften. Faſt allenthalben aber<lb/> werden wir nur Heuchelei ſtatt der Zuͤchtigkeit<lb/> gewahr, denn wenn die ehrbaren Herren unter<lb/> ſich ſind, ergoͤtzen ſie ſich um ſo lebhafter an<lb/> der roheſten und unſittlichſten Frechheit, und<lb/> weil der oͤffentliche Scherz und die Gegenwart<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [127/0138]
Einleitung.
nicht leicht verletzen; aber freilich muͤſſen wir
jetzt, da verdorbene Generationen und Buͤcher
voran gegangen ſind, und edlere Menſchen die
Verwerflichkeit mancher ſchamloſen Produkte eines
Diderot, Voltaire und andrer einſahn, um nur
den Ruhm der Zuͤchtigkeit zu empfangen, auch
den Schein einer gewiſſen Pruͤderie beibehalten,
die das Zeitalter einmal zum Kennzeichen der
Sitte geſtempelt hat. So hat der Menſch nach
uͤberſtandener Krankheit noch lange das Anſehn
eines Kranken, und muß auf einige Zeit noch
etwas von deſſen Diaͤt beibehalten. Eben ſo
verbreitete ſich in England nach einem Zeitalter
der Zuͤgelloſigkeit, von der Sekte der Puritaner
aus, eine Aengſtlichkeit und ſteife Feierlichkeit der
Sitte, die ſeitdem noch immer das Wort fuͤhrt,
ſo daß ein geſittetes Maͤdchen oder eine zuͤchtige
Frau von jetzt oder aus Shakſpears Zeit zwei
im Aeußern ſehr verſchiedene Weſen ſein moͤgen.
Die Reformation hatte in Deutſchland ſchon fruͤ-
her eine aͤhnliche Stimmung hervor gebracht, und
auch die katholiſchen Provinzen beſtrebten ſich
ſeitdem, eine ſtrengere Sitte zur Schau zu tra-
gen, um von dieſer Seite die Vorwuͤrfe ihrer
Gegner zu entkraͤften. Faſt allenthalben aber
werden wir nur Heuchelei ſtatt der Zuͤchtigkeit
gewahr, denn wenn die ehrbaren Herren unter
ſich ſind, ergoͤtzen ſie ſich um ſo lebhafter an
der roheſten und unſittlichſten Frechheit, und
weil der oͤffentliche Scherz und die Gegenwart
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