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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Einleitung.
jener heroischen Zeit, als die Menschheit, weni-
ger gesund, sich aus der Tragödie und dem gro-
ßen Epos schon mehr nach dem Lustspiel und
der Parodie sehnte, als die Trennung des Ge-
müthes sich schon schärfer gegen über stand, und
eine kräftiger robuste Malerei den sanften Schmelz
und die stille Harmonie der alten großsinnigen
Gemälde verdunkelte. Sein Dekameron ward
deshalb nach einiger Zeit das Lieblingsbuch aller
Nationen, und die komische, lächerliche und nie-
drigere Natur der Liebe ward immer mehr gesun-
gen, gepriesen und gefühlt, ihr holdes Wesen
schien immer tiefer zu entarten und immer mehr
den Menschen dem Thiere näher zu führen, (indeß
nun diesem Streben gegenüber schon die ganz
reine, überirdische Idee der Liebe, oft bis zum
leeren Götzendienste entstellt, sich auszubilden
suchte) bis wir in Peter Aretins und Branto-
me's Schriften endlich die kalte Frechheit ohne
allen Reiz und Grazie auftreten sehn. Doch
kann diese Beschuldigung nicht den Boccaz und
seine freien Scherze treffen, denn in ihm regt
sich und spricht der edle und vollständige Mensch,
der zwar ohne ängstliche Züchtigkeit, aber nicht
ohne Scham ist, der wie Ariost immer die Schön-
heit fühlt und singt, und der nur jene frecheren
Blumen nicht zu seinem Kranze verschmäht, son-
dern sie im Gegentheil gern so reicht und flicht,
daß ihr symbolischer Sinn unverholen in die
Augen fällt. Sein Buch kann uns also wohl

Einleitung.
jener heroiſchen Zeit, als die Menſchheit, weni-
ger geſund, ſich aus der Tragoͤdie und dem gro-
ßen Epos ſchon mehr nach dem Luſtſpiel und
der Parodie ſehnte, als die Trennung des Ge-
muͤthes ſich ſchon ſchaͤrfer gegen uͤber ſtand, und
eine kraͤftiger robuſte Malerei den ſanften Schmelz
und die ſtille Harmonie der alten großſinnigen
Gemaͤlde verdunkelte. Sein Dekameron ward
deshalb nach einiger Zeit das Lieblingsbuch aller
Nationen, und die komiſche, laͤcherliche und nie-
drigere Natur der Liebe ward immer mehr geſun-
gen, geprieſen und gefuͤhlt, ihr holdes Weſen
ſchien immer tiefer zu entarten und immer mehr
den Menſchen dem Thiere naͤher zu fuͤhren, (indeß
nun dieſem Streben gegenuͤber ſchon die ganz
reine, uͤberirdiſche Idee der Liebe, oft bis zum
leeren Goͤtzendienſte entſtellt, ſich auszubilden
ſuchte) bis wir in Peter Aretins und Branto-
me's Schriften endlich die kalte Frechheit ohne
allen Reiz und Grazie auftreten ſehn. Doch
kann dieſe Beſchuldigung nicht den Boccaz und
ſeine freien Scherze treffen, denn in ihm regt
ſich und ſpricht der edle und vollſtaͤndige Menſch,
der zwar ohne aͤngſtliche Zuͤchtigkeit, aber nicht
ohne Scham iſt, der wie Arioſt immer die Schoͤn-
heit fuͤhlt und ſingt, und der nur jene frecheren
Blumen nicht zu ſeinem Kranze verſchmaͤht, ſon-
dern ſie im Gegentheil gern ſo reicht und flicht,
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[126/0137] Einleitung. jener heroiſchen Zeit, als die Menſchheit, weni- ger geſund, ſich aus der Tragoͤdie und dem gro- ßen Epos ſchon mehr nach dem Luſtſpiel und der Parodie ſehnte, als die Trennung des Ge- muͤthes ſich ſchon ſchaͤrfer gegen uͤber ſtand, und eine kraͤftiger robuſte Malerei den ſanften Schmelz und die ſtille Harmonie der alten großſinnigen Gemaͤlde verdunkelte. Sein Dekameron ward deshalb nach einiger Zeit das Lieblingsbuch aller Nationen, und die komiſche, laͤcherliche und nie- drigere Natur der Liebe ward immer mehr geſun- gen, geprieſen und gefuͤhlt, ihr holdes Weſen ſchien immer tiefer zu entarten und immer mehr den Menſchen dem Thiere naͤher zu fuͤhren, (indeß nun dieſem Streben gegenuͤber ſchon die ganz reine, uͤberirdiſche Idee der Liebe, oft bis zum leeren Goͤtzendienſte entſtellt, ſich auszubilden ſuchte) bis wir in Peter Aretins und Branto- me's Schriften endlich die kalte Frechheit ohne allen Reiz und Grazie auftreten ſehn. Doch kann dieſe Beſchuldigung nicht den Boccaz und ſeine freien Scherze treffen, denn in ihm regt ſich und ſpricht der edle und vollſtaͤndige Menſch, der zwar ohne aͤngſtliche Zuͤchtigkeit, aber nicht ohne Scham iſt, der wie Arioſt immer die Schoͤn- heit fuͤhlt und ſingt, und der nur jene frecheren Blumen nicht zu ſeinem Kranze verſchmaͤht, ſon- dern ſie im Gegentheil gern ſo reicht und flicht, daß ihr ſymboliſcher Sinn unverholen in die Augen faͤllt. Sein Buch kann uns alſo wohl

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/137>, abgerufen am 22.11.2024.