die Blume ihres Lebens verloren, so ist es doch natürlicher und wahrer, sich auch in dieser wun- dervollen Lebensgegend, so wie bei allen Dingen, mit einem gewissen Heroismus zu waffnen, und früh zu erfahren, daß wir alles, was wir be- sitzen, nur durch den Glauben besitzen, und daß am wenigsten die Liebe eine bloße Begebenheit in uns sei, sondern daß sie, wie alles Gute von unserm Willen abhängt; denn von ihm geht sie aus, nachher wird er zwar von ihr bezwungen und gebrochen, kann aber später hin nur durch ihn allein als Liebe dauern und bestehn. Ein solcher Sinn und kräftiger aber frommer Wille verliert des Herzens Unschuld nie, der Scherz ist ihm nur Scherz, und er wird nicht anstehn, auch mit dem zu tändeln, was ihm das Hei- ligste und Liebste ist, denn wahrlich, dem Rei- nen ist alles rein.
Diese Beschreibung, sagte Ernst, charakteri- sirt die gesunde Zeit unsers deutschen Mittelal- ters, als neben den Nibelungen und dem Ti- turell der süße Tristan seinen Platz in aller Her- zen fand, und auch neben diesen großen Liebes- gedichten so viele muntre und schalkhafte Erzäh- lungen. Die später auftretende übersinnliche, oder außersinnliche Liebe, war noch nicht von der sinnlichen getrennt, sondern sie waren wie Leib und Seele verbunden, in der höchsten Ver- geistigung gesund, in dem freiesten Scherze un- schuldig.
Einleitung.
die Blume ihres Lebens verloren, ſo iſt es doch natuͤrlicher und wahrer, ſich auch in dieſer wun- dervollen Lebensgegend, ſo wie bei allen Dingen, mit einem gewiſſen Heroismus zu waffnen, und fruͤh zu erfahren, daß wir alles, was wir be- ſitzen, nur durch den Glauben beſitzen, und daß am wenigſten die Liebe eine bloße Begebenheit in uns ſei, ſondern daß ſie, wie alles Gute von unſerm Willen abhaͤngt; denn von ihm geht ſie aus, nachher wird er zwar von ihr bezwungen und gebrochen, kann aber ſpaͤter hin nur durch ihn allein als Liebe dauern und beſtehn. Ein ſolcher Sinn und kraͤftiger aber frommer Wille verliert des Herzens Unſchuld nie, der Scherz iſt ihm nur Scherz, und er wird nicht anſtehn, auch mit dem zu taͤndeln, was ihm das Hei- ligſte und Liebſte iſt, denn wahrlich, dem Rei- nen iſt alles rein.
Dieſe Beſchreibung, ſagte Ernſt, charakteri- ſirt die geſunde Zeit unſers deutſchen Mittelal- ters, als neben den Nibelungen und dem Ti- turell der ſuͤße Triſtan ſeinen Platz in aller Her- zen fand, und auch neben dieſen großen Liebes- gedichten ſo viele muntre und ſchalkhafte Erzaͤh- lungen. Die ſpaͤter auftretende uͤberſinnliche, oder außerſinnliche Liebe, war noch nicht von der ſinnlichen getrennt, ſondern ſie waren wie Leib und Seele verbunden, in der hoͤchſten Ver- geiſtigung geſund, in dem freieſten Scherze un- ſchuldig.
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Einleitung.
die Blume ihres Lebens verloren, ſo iſt es doch
natuͤrlicher und wahrer, ſich auch in dieſer wun-
dervollen Lebensgegend, ſo wie bei allen Dingen,
mit einem gewiſſen Heroismus zu waffnen, und
fruͤh zu erfahren, daß wir alles, was wir be-
ſitzen, nur durch den Glauben beſitzen, und daß
am wenigſten die Liebe eine bloße Begebenheit
in uns ſei, ſondern daß ſie, wie alles Gute von
unſerm Willen abhaͤngt; denn von ihm geht ſie
aus, nachher wird er zwar von ihr bezwungen
und gebrochen, kann aber ſpaͤter hin nur durch
ihn allein als Liebe dauern und beſtehn. Ein
ſolcher Sinn und kraͤftiger aber frommer Wille
verliert des Herzens Unſchuld nie, der Scherz
iſt ihm nur Scherz, und er wird nicht anſtehn,
auch mit dem zu taͤndeln, was ihm das Hei-
ligſte und Liebſte iſt, denn wahrlich, dem Rei-
nen iſt alles rein.
Dieſe Beſchreibung, ſagte Ernſt, charakteri-
ſirt die geſunde Zeit unſers deutſchen Mittelal-
ters, als neben den Nibelungen und dem Ti-
turell der ſuͤße Triſtan ſeinen Platz in aller Her-
zen fand, und auch neben dieſen großen Liebes-
gedichten ſo viele muntre und ſchalkhafte Erzaͤh-
lungen. Die ſpaͤter auftretende uͤberſinnliche,
oder außerſinnliche Liebe, war noch nicht von
der ſinnlichen getrennt, ſondern ſie waren wie
Leib und Seele verbunden, in der hoͤchſten Ver-
geiſtigung geſund, in dem freieſten Scherze un-
ſchuldig.
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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/135>, abgerufen am 16.02.2025.
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