fühlst du mich denn auch? Siehe, du hast nicht umsonst gelebt, ich weiß von dir, nur ein He- rold der Menschheit bin ich, nur ein Laut aus der unzählbaren Schaar! -- Sollte ein solches Gefühl nicht unmittelbare Gemeinschaft mit dem geliebten Wesen erzeugen können?
Und so ist die Welt unser, fuhr Lothar heftig fort, wenn wir dieser Welt nur würdig sind! Aber leider sind wir meist zu träge und todt, um die zu bewundern, deren Leben ein Wunder war; denn nicht was unser leeres Er- staunen erregt, was wir nicht begreifen, sollten wir so nennen, sondern die Kraft jener Welt- überwinder, die über Schicksal und Tod siegten, diese Helden sollten wir als Wunderthäter ver- ehren; unser äußerer Mensch versteht und faßt sie auch nicht, aber der innere fühlt sie, und in Andacht und Liebe sind sie ihm vertraut und mehr als verständlich.
Alles, was wir wachend von Schmerz und Rührung wissen, sagte Anton, ist doch nur kalt zu nennen gegen jene Thränen, die wir in Träu- men vergießen, gegen jenes Herzklopfen, das wir im Schlaf empfinden. Dann ist die letzte Härte unseres Wesens zerschmolzen, und die ganze Seele fluthet in den Wogen des Schmer- zes. Im wachenden Zustande bleiben immer noch einige Felsenklippen übrig, an denen die Fluth sich bricht.
Gewiß, fuhr Friedrich fort, sollten wir die
Einleitung.
fuͤhlſt du mich denn auch? Siehe, du haſt nicht umſonſt gelebt, ich weiß von dir, nur ein He- rold der Menſchheit bin ich, nur ein Laut aus der unzaͤhlbaren Schaar! — Sollte ein ſolches Gefuͤhl nicht unmittelbare Gemeinſchaft mit dem geliebten Weſen erzeugen koͤnnen?
Und ſo iſt die Welt unſer, fuhr Lothar heftig fort, wenn wir dieſer Welt nur wuͤrdig ſind! Aber leider ſind wir meiſt zu traͤge und todt, um die zu bewundern, deren Leben ein Wunder war; denn nicht was unſer leeres Er- ſtaunen erregt, was wir nicht begreifen, ſollten wir ſo nennen, ſondern die Kraft jener Welt- uͤberwinder, die uͤber Schickſal und Tod ſiegten, dieſe Helden ſollten wir als Wunderthaͤter ver- ehren; unſer aͤußerer Menſch verſteht und faßt ſie auch nicht, aber der innere fuͤhlt ſie, und in Andacht und Liebe ſind ſie ihm vertraut und mehr als verſtaͤndlich.
Alles, was wir wachend von Schmerz und Ruͤhrung wiſſen, ſagte Anton, iſt doch nur kalt zu nennen gegen jene Thraͤnen, die wir in Traͤu- men vergießen, gegen jenes Herzklopfen, das wir im Schlaf empfinden. Dann iſt die letzte Haͤrte unſeres Weſens zerſchmolzen, und die ganze Seele fluthet in den Wogen des Schmer- zes. Im wachenden Zuſtande bleiben immer noch einige Felſenklippen uͤbrig, an denen die Fluth ſich bricht.
Gewiß, fuhr Friedrich fort, ſollten wir die
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0120"n="109"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Einleitung</hi>.</fw><lb/>
fuͤhlſt du mich denn auch? Siehe, du haſt nicht<lb/>
umſonſt gelebt, ich weiß von dir, nur ein He-<lb/>
rold der Menſchheit bin ich, nur ein Laut aus<lb/>
der unzaͤhlbaren Schaar! — Sollte ein ſolches<lb/>
Gefuͤhl nicht unmittelbare Gemeinſchaft mit dem<lb/>
geliebten Weſen erzeugen koͤnnen?</p><lb/><p>Und ſo iſt die Welt unſer, fuhr Lothar<lb/>
heftig fort, wenn wir dieſer Welt nur wuͤrdig<lb/>ſind! Aber leider ſind wir meiſt zu traͤge und<lb/>
todt, um die zu bewundern, deren Leben ein<lb/>
Wunder war; denn nicht was unſer leeres Er-<lb/>ſtaunen erregt, was wir nicht begreifen, ſollten<lb/>
wir ſo nennen, ſondern die Kraft jener Welt-<lb/>
uͤberwinder, die uͤber Schickſal und Tod ſiegten,<lb/>
dieſe Helden ſollten wir als Wunderthaͤter ver-<lb/>
ehren; unſer aͤußerer Menſch verſteht und faßt<lb/>ſie auch nicht, aber der innere fuͤhlt ſie, und in<lb/>
Andacht und Liebe ſind ſie ihm vertraut und<lb/>
mehr als verſtaͤndlich.</p><lb/><p>Alles, was wir wachend von Schmerz und<lb/>
Ruͤhrung wiſſen, ſagte Anton, iſt doch nur kalt<lb/>
zu nennen gegen jene Thraͤnen, die wir in Traͤu-<lb/>
men vergießen, gegen jenes Herzklopfen, das<lb/>
wir im Schlaf empfinden. Dann iſt die letzte<lb/>
Haͤrte unſeres Weſens zerſchmolzen, und die<lb/>
ganze Seele fluthet in den Wogen des Schmer-<lb/>
zes. Im wachenden Zuſtande bleiben immer<lb/>
noch einige Felſenklippen uͤbrig, an denen die<lb/>
Fluth ſich bricht.</p><lb/><p>Gewiß, fuhr Friedrich fort, ſollten wir die<lb/></p></div></body></text></TEI>
[109/0120]
Einleitung.
fuͤhlſt du mich denn auch? Siehe, du haſt nicht
umſonſt gelebt, ich weiß von dir, nur ein He-
rold der Menſchheit bin ich, nur ein Laut aus
der unzaͤhlbaren Schaar! — Sollte ein ſolches
Gefuͤhl nicht unmittelbare Gemeinſchaft mit dem
geliebten Weſen erzeugen koͤnnen?
Und ſo iſt die Welt unſer, fuhr Lothar
heftig fort, wenn wir dieſer Welt nur wuͤrdig
ſind! Aber leider ſind wir meiſt zu traͤge und
todt, um die zu bewundern, deren Leben ein
Wunder war; denn nicht was unſer leeres Er-
ſtaunen erregt, was wir nicht begreifen, ſollten
wir ſo nennen, ſondern die Kraft jener Welt-
uͤberwinder, die uͤber Schickſal und Tod ſiegten,
dieſe Helden ſollten wir als Wunderthaͤter ver-
ehren; unſer aͤußerer Menſch verſteht und faßt
ſie auch nicht, aber der innere fuͤhlt ſie, und in
Andacht und Liebe ſind ſie ihm vertraut und
mehr als verſtaͤndlich.
Alles, was wir wachend von Schmerz und
Ruͤhrung wiſſen, ſagte Anton, iſt doch nur kalt
zu nennen gegen jene Thraͤnen, die wir in Traͤu-
men vergießen, gegen jenes Herzklopfen, das
wir im Schlaf empfinden. Dann iſt die letzte
Haͤrte unſeres Weſens zerſchmolzen, und die
ganze Seele fluthet in den Wogen des Schmer-
zes. Im wachenden Zuſtande bleiben immer
noch einige Felſenklippen uͤbrig, an denen die
Fluth ſich bricht.
Gewiß, fuhr Friedrich fort, ſollten wir die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/120>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.