Rosalinen in den Armen hielt; der ganze Sturm meiner Sinnlichkeit wachte in mir auf, und sie war gefallen, als sie es noch kaum bemerkt hatte.
Als sie wieder ihrer Sinne mächtig wurde, wußte sie nicht, ob sie mir Vorwürfe machen, oder ob sie weinen sollte. Ich tröstete sie durch Küsse, wir gingen stumm Hand in Hand aus dem Garten, am Eingange küßte ich sie noch einmahl, dann ging sie fort.
Ich ging im Mondlicht durch die dicht be- laubten Gänge; jetzt fiel mir ein, daß sie mit dem jungen Wilmont so gut wie verlobt sey. -- Ich wußte nicht, sollte ich lachen, oder heiße, brennende Thränen vergießen: mein Mund zog sich zum höhnischen Lächeln, und große Thrä- nen fielen aus meinen Augen.
Ist das der Mensch, und der edlere Mensch? Welch elendes, verächtliches Gewürme! -- Was mag sie jetzt denken, wenn sie überlegt, wohin sie von ihrer regen Empfindsamkeit geführt ist?
Ich könnte meine Eitelkeit sehr nähren, und mir einbilden, sie liebe mich ganz unbeschreib- lich, und nur diese gränzenlose Liebe habe den Fall ihrer Tugend verursacht. -- Aber die Schwä- che des Menschen allein hat sie dorthin getrie-
Roſalinen in den Armen hielt; der ganze Sturm meiner Sinnlichkeit wachte in mir auf, und ſie war gefallen, als ſie es noch kaum bemerkt hatte.
Als ſie wieder ihrer Sinne maͤchtig wurde, wußte ſie nicht, ob ſie mir Vorwuͤrfe machen, oder ob ſie weinen ſollte. Ich troͤſtete ſie durch Kuͤſſe, wir gingen ſtumm Hand in Hand aus dem Garten, am Eingange kuͤßte ich ſie noch einmahl, dann ging ſie fort.
Ich ging im Mondlicht durch die dicht be- laubten Gaͤnge; jetzt fiel mir ein, daß ſie mit dem jungen Wilmont ſo gut wie verlobt ſey. — Ich wußte nicht, ſollte ich lachen, oder heiße, brennende Thraͤnen vergießen: mein Mund zog ſich zum hoͤhniſchen Laͤcheln, und große Thraͤ- nen fielen aus meinen Augen.
Iſt das der Menſch, und der edlere Menſch? Welch elendes, veraͤchtliches Gewuͤrme! — Was mag ſie jetzt denken, wenn ſie uͤberlegt, wohin ſie von ihrer regen Empfindſamkeit gefuͤhrt iſt?
Ich koͤnnte meine Eitelkeit ſehr naͤhren, und mir einbilden, ſie liebe mich ganz unbeſchreib- lich, und nur dieſe graͤnzenloſe Liebe habe den Fall ihrer Tugend verurſacht. — Aber die Schwaͤ- che des Menſchen allein hat ſie dorthin getrie-
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Roſalinen in den Armen hielt; der ganze Sturm
meiner Sinnlichkeit wachte in mir auf, und ſie
war gefallen, als ſie es noch kaum bemerkt hatte.
Als ſie wieder ihrer Sinne maͤchtig wurde,
wußte ſie nicht, ob ſie mir Vorwuͤrfe machen,
oder ob ſie weinen ſollte. Ich troͤſtete ſie durch
Kuͤſſe, wir gingen ſtumm Hand in Hand aus
dem Garten, am Eingange kuͤßte ich ſie noch
einmahl, dann ging ſie fort.
Ich ging im Mondlicht durch die dicht be-
laubten Gaͤnge; jetzt fiel mir ein, daß ſie mit
dem jungen Wilmont ſo gut wie verlobt ſey. —
Ich wußte nicht, ſollte ich lachen, oder heiße,
brennende Thraͤnen vergießen: mein Mund zog
ſich zum hoͤhniſchen Laͤcheln, und große Thraͤ-
nen fielen aus meinen Augen.
Iſt das der Menſch, und der edlere Menſch?
Welch elendes, veraͤchtliches Gewuͤrme! — Was
mag ſie jetzt denken, wenn ſie uͤberlegt, wohin
ſie von ihrer regen Empfindſamkeit gefuͤhrt iſt?
Ich koͤnnte meine Eitelkeit ſehr naͤhren, und
mir einbilden, ſie liebe mich ganz unbeſchreib-
lich, und nur dieſe graͤnzenloſe Liebe habe den
Fall ihrer Tugend verurſacht. — Aber die Schwaͤ-
che des Menſchen allein hat ſie dorthin getrie-
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/62>, abgerufen am 23.11.2024.
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