meine Schwermuth machte, daß ich ihr nie we- niger interessant vorkam.
Gestern war sie ganz allein im Garten, denn ihr Bruder war ausgeritten, um jemand in der Nachbarschaft zu besuchen. Es war ge- gen Abend, und ich suchte sie auf. Wir gin- gen auf und ab, und unser Gespräch ward im- mer hitziger, und verwickelter; wir kamen zur Laube zurück, der Mond schien, und wir setz- ten uns auf die Rasenbank nieder.
Sie war sehr weich gestimmt, und ich be- merkte die Thränen deutlich, die heimlich aus ihren Augen tröpfelten; rasch umarmte ich sie, und küßte ihre Thränen weg, dann fielen meine Lippen auf ihren zarten Mund. Sie wußte nicht, was sie antworten sollte, sie war völlig in meiner Gewalt, davon war ich innig über- zeugt. Sie lehnte ihren Kopf an meine Schul- ter, und fing laut an zu weinen, dann umarmte sie mich freywillig, und drückte einen herzlichen Kuß auf meine Lippen. -- Ich liebte sie innig in dieser Minute, ich drückte sie an meine Brust, und unsere Seufzer begegneten sich. Ungewiß war alles umher und in mir, ich wußte nicht ob ich Amalien, oder sie, oder
meine Schwermuth machte, daß ich ihr nie we- niger intereſſant vorkam.
Geſtern war ſie ganz allein im Garten, denn ihr Bruder war ausgeritten, um jemand in der Nachbarſchaft zu beſuchen. Es war ge- gen Abend, und ich ſuchte ſie auf. Wir gin- gen auf und ab, und unſer Geſpraͤch ward im- mer hitziger, und verwickelter; wir kamen zur Laube zuruͤck, der Mond ſchien, und wir ſetz- ten uns auf die Raſenbank nieder.
Sie war ſehr weich geſtimmt, und ich be- merkte die Thraͤnen deutlich, die heimlich aus ihren Augen troͤpfelten; raſch umarmte ich ſie, und kuͤßte ihre Thraͤnen weg, dann fielen meine Lippen auf ihren zarten Mund. Sie wußte nicht, was ſie antworten ſollte, ſie war voͤllig in meiner Gewalt, davon war ich innig uͤber- zeugt. Sie lehnte ihren Kopf an meine Schul- ter, und fing laut an zu weinen, dann umarmte ſie mich freywillig, und druͤckte einen herzlichen Kuß auf meine Lippen. — Ich liebte ſie innig in dieſer Minute, ich druͤckte ſie an meine Bruſt, und unſere Seufzer begegneten ſich. Ungewiß war alles umher und in mir, ich wußte nicht ob ich Amalien, oder ſie, oder
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meine Schwermuth machte, daß ich ihr nie we-
niger intereſſant vorkam.
Geſtern war ſie ganz allein im Garten,
denn ihr Bruder war ausgeritten, um jemand
in der Nachbarſchaft zu beſuchen. Es war ge-
gen Abend, und ich ſuchte ſie auf. Wir gin-
gen auf und ab, und unſer Geſpraͤch ward im-
mer hitziger, und verwickelter; wir kamen zur
Laube zuruͤck, der Mond ſchien, und wir ſetz-
ten uns auf die Raſenbank nieder.
Sie war ſehr weich geſtimmt, und ich be-
merkte die Thraͤnen deutlich, die heimlich aus
ihren Augen troͤpfelten; raſch umarmte ich ſie,
und kuͤßte ihre Thraͤnen weg, dann fielen meine
Lippen auf ihren zarten Mund. Sie wußte
nicht, was ſie antworten ſollte, ſie war voͤllig
in meiner Gewalt, davon war ich innig uͤber-
zeugt. Sie lehnte ihren Kopf an meine Schul-
ter, und fing laut an zu weinen, dann umarmte
ſie mich freywillig, und druͤckte einen herzlichen
Kuß auf meine Lippen. — Ich liebte ſie innig
in dieſer Minute, ich druͤckte ſie an meine
Bruſt, und unſere Seufzer begegneten ſich.
Ungewiß war alles umher und in mir, ich
wußte nicht ob ich Amalien, oder ſie, oder
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/61>, abgerufen am 23.11.2024.
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