Wie wahr ist Ihr Brief, und wie schlimm ist's, daß es mit dem Menschen so bestellt ist, daß er wahr ist! -- O wenn ich doch meine verlornen Jahre von der Zeit zurückkaufen könnte! Ich sehe jetzt erst ein, was ich bin und was ich seyn könnte. Seit langer Zeit hab' ich mich bestrebt, das Fremdartige, Fern- liegende zu meinem Eigenthume zu machen, und über dieser Bemühung habe ich mich selbst verloren. Es war nicht meine Bestimmung, die Menschen kennen zu lernen und sie zu mei- stern, ich ging über ein Studium zu Grunde, das die höheren Geister nur noch mehr erhebt. Ich hätte mich daran gewöhnen sollen, auch in Thorheiten und Albernheiten das Gute zu fin- den, nicht scharf zu tadeln und zu verachten, sondern mich selbst zu bessern.
War es mir wohl in meiner Verworfen- heit vergönnt, so über die Menschen zu spre-
Lovell. 3r Bd. G g
22. William Lovell an Roſa.
Rom.
Wie wahr iſt Ihr Brief, und wie ſchlimm iſt's, daß es mit dem Menſchen ſo beſtellt iſt, daß er wahr iſt! — O wenn ich doch meine verlornen Jahre von der Zeit zuruͤckkaufen koͤnnte! Ich ſehe jetzt erſt ein, was ich bin und was ich ſeyn koͤnnte. Seit langer Zeit hab' ich mich beſtrebt, das Fremdartige, Fern- liegende zu meinem Eigenthume zu machen, und uͤber dieſer Bemuͤhung habe ich mich ſelbſt verloren. Es war nicht meine Beſtimmung, die Menſchen kennen zu lernen und ſie zu mei- ſtern, ich ging uͤber ein Studium zu Grunde, das die hoͤheren Geiſter nur noch mehr erhebt. Ich haͤtte mich daran gewoͤhnen ſollen, auch in Thorheiten und Albernheiten das Gute zu fin- den, nicht ſcharf zu tadeln und zu verachten, ſondern mich ſelbſt zu beſſern.
War es mir wohl in meiner Verworfen- heit vergoͤnnt, ſo uͤber die Menſchen zu ſpre-
Lovell. 3r Bd. G g
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22.
William Lovell an Roſa.
Rom.
Wie wahr iſt Ihr Brief, und wie ſchlimm
iſt's, daß es mit dem Menſchen ſo beſtellt iſt,
daß er wahr iſt! — O wenn ich doch meine
verlornen Jahre von der Zeit zuruͤckkaufen
koͤnnte! Ich ſehe jetzt erſt ein, was ich bin
und was ich ſeyn koͤnnte. Seit langer Zeit
hab' ich mich beſtrebt, das Fremdartige, Fern-
liegende zu meinem Eigenthume zu machen,
und uͤber dieſer Bemuͤhung habe ich mich ſelbſt
verloren. Es war nicht meine Beſtimmung,
die Menſchen kennen zu lernen und ſie zu mei-
ſtern, ich ging uͤber ein Studium zu Grunde,
das die hoͤheren Geiſter nur noch mehr erhebt.
Ich haͤtte mich daran gewoͤhnen ſollen, auch in
Thorheiten und Albernheiten das Gute zu fin-
den, nicht ſcharf zu tadeln und zu verachten,
ſondern mich ſelbſt zu beſſern.
War es mir wohl in meiner Verworfen-
heit vergoͤnnt, ſo uͤber die Menſchen zu ſpre-
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 465. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/472>, abgerufen am 23.11.2024.
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