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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796.

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nicht durch Nachlässigkeit an meinem Tode
Schuld zu seyn, aber man hörte nun in der
Dämmerung noch weniger auf mich. Schon
waren elf Unbarmherzige vorübergegangen, und
auch der zwölfte kam und sah sich nicht nach
meinen Bitten um: schon war ich aufgestanden,
um mich nun köpflings über das Geländer der
Brücke in den Strom zu stürzen, als ich einen
singenden Menschen hörte, der sich näherte.
Ich hielt ein, um auch noch mit diesem einen
Versuch zu machen, von dem ich schon im vor-
aus überzeugt war, daß er vergeblich seyn
würde, denn der Spatziergänger war froh und
guter Dinge. Er kam näher. Es war ein
Betrunkener, der sich kaum mehr aufrecht zu
erhalten wußte, sein Bewußtseyn hatte ihn fast
gänzlich verlassen, und er brummte ein unver-
ständliches Lied zwischen den Zähnen hervor.
Es kam mir vor wie eine Satyre auf mich
selbst und auf die Menschheit, als ich mit de-
müthigen Bitten sein Wohlwollen und sein
christliches Herz in Anspruch nahm. Er stand
still, betrachtete mich und lachte dann über
mein kümmerliches Aussehen aus vollem Halse.
Ich hätte beynahe mit eingestimmt. Mit einem

E e 2

nicht durch Nachlaͤſſigkeit an meinem Tode
Schuld zu ſeyn, aber man hoͤrte nun in der
Daͤmmerung noch weniger auf mich. Schon
waren elf Unbarmherzige voruͤbergegangen, und
auch der zwoͤlfte kam und ſah ſich nicht nach
meinen Bitten um: ſchon war ich aufgeſtanden,
um mich nun koͤpflings uͤber das Gelaͤnder der
Bruͤcke in den Strom zu ſtuͤrzen, als ich einen
ſingenden Menſchen hoͤrte, der ſich naͤherte.
Ich hielt ein, um auch noch mit dieſem einen
Verſuch zu machen, von dem ich ſchon im vor-
aus uͤberzeugt war, daß er vergeblich ſeyn
wuͤrde, denn der Spatziergaͤnger war froh und
guter Dinge. Er kam naͤher. Es war ein
Betrunkener, der ſich kaum mehr aufrecht zu
erhalten wußte, ſein Bewußtſeyn hatte ihn faſt
gaͤnzlich verlaſſen, und er brummte ein unver-
ſtaͤndliches Lied zwiſchen den Zaͤhnen hervor.
Es kam mir vor wie eine Satyre auf mich
ſelbſt und auf die Menſchheit, als ich mit de-
muͤthigen Bitten ſein Wohlwollen und ſein
chriſtliches Herz in Anſpruch nahm. Er ſtand
ſtill, betrachtete mich und lachte dann uͤber
mein kuͤmmerliches Ausſehen aus vollem Halſe.
Ich haͤtte beynahe mit eingeſtimmt. Mit einem

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[435/0442] nicht durch Nachlaͤſſigkeit an meinem Tode Schuld zu ſeyn, aber man hoͤrte nun in der Daͤmmerung noch weniger auf mich. Schon waren elf Unbarmherzige voruͤbergegangen, und auch der zwoͤlfte kam und ſah ſich nicht nach meinen Bitten um: ſchon war ich aufgeſtanden, um mich nun koͤpflings uͤber das Gelaͤnder der Bruͤcke in den Strom zu ſtuͤrzen, als ich einen ſingenden Menſchen hoͤrte, der ſich naͤherte. Ich hielt ein, um auch noch mit dieſem einen Verſuch zu machen, von dem ich ſchon im vor- aus uͤberzeugt war, daß er vergeblich ſeyn wuͤrde, denn der Spatziergaͤnger war froh und guter Dinge. Er kam naͤher. Es war ein Betrunkener, der ſich kaum mehr aufrecht zu erhalten wußte, ſein Bewußtſeyn hatte ihn faſt gaͤnzlich verlaſſen, und er brummte ein unver- ſtaͤndliches Lied zwiſchen den Zaͤhnen hervor. Es kam mir vor wie eine Satyre auf mich ſelbſt und auf die Menſchheit, als ich mit de- muͤthigen Bitten ſein Wohlwollen und ſein chriſtliches Herz in Anſpruch nahm. Er ſtand ſtill, betrachtete mich und lachte dann uͤber mein kuͤmmerliches Ausſehen aus vollem Halſe. Ich haͤtte beynahe mit eingeſtimmt. Mit einem E e 2

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 435. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/442>, abgerufen am 22.11.2024.