Ich betrat das Englische Ufer, um hier neue Erfahrungen zu machen.
Klugheit.
Ich kam mit der festen Ueberzeugung zu- rück, die Menschen zu kennen. Ich hatte im Laufe meines wilden Lebens nicht unterlassen, sie zu beobachten, aber ich war mir dieser Be- obachtungen viel zu sehr bewußt, als daß sie hätten richtig seyn können. Es ist schwer, die Menschen in der Gegenwart zu kennen, weit richtiger beurtheilt man sie in der Entfernung, wenn wir nach und nach die wahrgenommenen Merkmale sammeln. Ueber meine Freunde in Italien fing ich daher an, ganz richtig zu den- ken, und doch brachten mich die Menschen, die ich in England traf, von neuem in Verwirrung: ich suchte mich in jede Gestalt, die mir auf- stieß, hineinzustudiren, und darüber geschah es denn unvermerkt, daß ich selbst manches von dem Menschen annahm, den ich mir nur ver- ständlich machen wollte; es ist dieselbe Erfah- rung, die jeder Uebersetzer macht, der während der Arbeit sein Original zu hoch anschlägt.
Ich betrat das Engliſche Ufer, um hier neue Erfahrungen zu machen.
Klugheit.
Ich kam mit der feſten Ueberzeugung zu- ruͤck, die Menſchen zu kennen. Ich hatte im Laufe meines wilden Lebens nicht unterlaſſen, ſie zu beobachten, aber ich war mir dieſer Be- obachtungen viel zu ſehr bewußt, als daß ſie haͤtten richtig ſeyn koͤnnen. Es iſt ſchwer, die Menſchen in der Gegenwart zu kennen, weit richtiger beurtheilt man ſie in der Entfernung, wenn wir nach und nach die wahrgenommenen Merkmale ſammeln. Ueber meine Freunde in Italien fing ich daher an, ganz richtig zu den- ken, und doch brachten mich die Menſchen, die ich in England traf, von neuem in Verwirrung: ich ſuchte mich in jede Geſtalt, die mir auf- ſtieß, hineinzuſtudiren, und daruͤber geſchah es denn unvermerkt, daß ich ſelbſt manches von dem Menſchen annahm, den ich mir nur ver- ſtaͤndlich machen wollte; es iſt dieſelbe Erfah- rung, die jeder Ueberſetzer macht, der waͤhrend der Arbeit ſein Original zu hoch anſchlaͤgt.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0427"n="420"/>
Ich betrat das Engliſche Ufer, um hier neue<lb/>
Erfahrungen zu machen.</p></div><lb/><divn="3"><head><hirendition="#g">Klugheit</hi>.</head><lb/><p>Ich kam mit der feſten Ueberzeugung zu-<lb/>
ruͤck, die Menſchen zu kennen. Ich hatte im<lb/>
Laufe meines wilden Lebens nicht unterlaſſen,<lb/>ſie zu beobachten, aber ich war mir dieſer Be-<lb/>
obachtungen viel zu ſehr bewußt, als daß ſie<lb/>
haͤtten richtig ſeyn koͤnnen. Es iſt ſchwer, die<lb/>
Menſchen in der Gegenwart zu kennen, weit<lb/>
richtiger beurtheilt man ſie in der Entfernung,<lb/>
wenn wir nach und nach die wahrgenommenen<lb/>
Merkmale ſammeln. Ueber meine Freunde in<lb/>
Italien fing ich daher an, ganz richtig zu den-<lb/>
ken, und doch brachten mich die Menſchen, die<lb/>
ich in England traf, von neuem in Verwirrung:<lb/>
ich ſuchte mich in jede Geſtalt, die mir auf-<lb/>ſtieß, hineinzuſtudiren, und daruͤber geſchah es<lb/>
denn unvermerkt, daß ich ſelbſt manches von<lb/>
dem Menſchen annahm, den ich mir nur ver-<lb/>ſtaͤndlich machen wollte; es iſt dieſelbe Erfah-<lb/>
rung, die jeder Ueberſetzer macht, der waͤhrend<lb/>
der Arbeit ſein Original zu hoch anſchlaͤgt.</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[420/0427]
Ich betrat das Engliſche Ufer, um hier neue
Erfahrungen zu machen.
Klugheit.
Ich kam mit der feſten Ueberzeugung zu-
ruͤck, die Menſchen zu kennen. Ich hatte im
Laufe meines wilden Lebens nicht unterlaſſen,
ſie zu beobachten, aber ich war mir dieſer Be-
obachtungen viel zu ſehr bewußt, als daß ſie
haͤtten richtig ſeyn koͤnnen. Es iſt ſchwer, die
Menſchen in der Gegenwart zu kennen, weit
richtiger beurtheilt man ſie in der Entfernung,
wenn wir nach und nach die wahrgenommenen
Merkmale ſammeln. Ueber meine Freunde in
Italien fing ich daher an, ganz richtig zu den-
ken, und doch brachten mich die Menſchen, die
ich in England traf, von neuem in Verwirrung:
ich ſuchte mich in jede Geſtalt, die mir auf-
ſtieß, hineinzuſtudiren, und daruͤber geſchah es
denn unvermerkt, daß ich ſelbſt manches von
dem Menſchen annahm, den ich mir nur ver-
ſtaͤndlich machen wollte; es iſt dieſelbe Erfah-
rung, die jeder Ueberſetzer macht, der waͤhrend
der Arbeit ſein Original zu hoch anſchlaͤgt.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 420. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/427>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.