ohne Interesse. Menschen, die dann in der Ferne vorübergingen, beneidete ich, indem ich sie verachtete: ein verworrenes Gewühl von tausend Gestalten lag drückend in meiner Phan- tasie; keine konnte sich losarbeiten, um als ein einzelnes, anschauliches Bild dazustehn. -- Dies sind die Empfindungen eines jungen unentwickel- ten Menschen, der nach etwas greift, das er selbst nicht kennt.
Das hohe Ideal der Tugend und der Vor- treflichkeit des Menschen kam jetzt in meine Seele zurück. Ich nahm mir vor, alle meine Gefühle in dieser Vorstellung zu verbinden, ich sah jetzt meine unglückliche Liebe als ein Opfer an, das ich der Tugend und der Nothwendig- keit gebracht hatte. Ich fand in vielen Stun- den Trost in diesem Gedanken, und ich nahm mir von neuem vor, ein recht edler und voll- endeter Mensch zu werden, alle die gewöhnli- chen Armseeligkeiten wegzuwerfen und mich ganz der hohen Vorstellung zu weihen, die mein Herz erweiterte. Dieser Vorsatz ist es eigent- lich nur, der den Menschen so oft über diese Welt hinüberhebt, denn in der langsamen und weitschweifigen Ausübung geht bald aller En-
ohne Intereſſe. Menſchen, die dann in der Ferne voruͤbergingen, beneidete ich, indem ich ſie verachtete: ein verworrenes Gewuͤhl von tauſend Geſtalten lag druͤckend in meiner Phan- taſie; keine konnte ſich losarbeiten, um als ein einzelnes, anſchauliches Bild dazuſtehn. — Dies ſind die Empfindungen eines jungen unentwickel- ten Menſchen, der nach etwas greift, das er ſelbſt nicht kennt.
Das hohe Ideal der Tugend und der Vor- treflichkeit des Menſchen kam jetzt in meine Seele zuruͤck. Ich nahm mir vor, alle meine Gefuͤhle in dieſer Vorſtellung zu verbinden, ich ſah jetzt meine ungluͤckliche Liebe als ein Opfer an, das ich der Tugend und der Nothwendig- keit gebracht hatte. Ich fand in vielen Stun- den Troſt in dieſem Gedanken, und ich nahm mir von neuem vor, ein recht edler und voll- endeter Menſch zu werden, alle die gewoͤhnli- chen Armſeeligkeiten wegzuwerfen und mich ganz der hohen Vorſtellung zu weihen, die mein Herz erweiterte. Dieſer Vorſatz iſt es eigent- lich nur, der den Menſchen ſo oft uͤber dieſe Welt hinuͤberhebt, denn in der langſamen und weitſchweifigen Ausuͤbung geht bald aller En-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0421"n="441[414]"/>
ohne Intereſſe. Menſchen, die dann in der<lb/>
Ferne voruͤbergingen, beneidete ich, indem ich<lb/>ſie verachtete: ein verworrenes Gewuͤhl von<lb/>
tauſend Geſtalten lag druͤckend in meiner Phan-<lb/>
taſie; keine konnte ſich losarbeiten, um als ein<lb/>
einzelnes, anſchauliches Bild dazuſtehn. — Dies<lb/>ſind die Empfindungen eines jungen unentwickel-<lb/>
ten Menſchen, der nach etwas greift, das er<lb/>ſelbſt nicht kennt.</p><lb/><p>Das hohe Ideal der Tugend und der Vor-<lb/>
treflichkeit des Menſchen kam jetzt in meine<lb/>
Seele zuruͤck. Ich nahm mir vor, alle meine<lb/>
Gefuͤhle in dieſer Vorſtellung zu verbinden, ich<lb/>ſah jetzt meine ungluͤckliche Liebe als ein Opfer<lb/>
an, das ich der Tugend und der Nothwendig-<lb/>
keit gebracht hatte. Ich fand in vielen Stun-<lb/>
den Troſt in dieſem Gedanken, und ich nahm<lb/>
mir von neuem vor, ein recht edler und voll-<lb/>
endeter Menſch zu werden, alle die gewoͤhnli-<lb/>
chen Armſeeligkeiten wegzuwerfen und mich<lb/>
ganz der hohen Vorſtellung zu weihen, die mein<lb/>
Herz erweiterte. Dieſer Vorſatz iſt es eigent-<lb/>
lich nur, der den Menſchen ſo oft uͤber dieſe<lb/>
Welt hinuͤberhebt, denn in der langſamen und<lb/>
weitſchweifigen Ausuͤbung geht bald aller En-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[441[414]/0421]
ohne Intereſſe. Menſchen, die dann in der
Ferne voruͤbergingen, beneidete ich, indem ich
ſie verachtete: ein verworrenes Gewuͤhl von
tauſend Geſtalten lag druͤckend in meiner Phan-
taſie; keine konnte ſich losarbeiten, um als ein
einzelnes, anſchauliches Bild dazuſtehn. — Dies
ſind die Empfindungen eines jungen unentwickel-
ten Menſchen, der nach etwas greift, das er
ſelbſt nicht kennt.
Das hohe Ideal der Tugend und der Vor-
treflichkeit des Menſchen kam jetzt in meine
Seele zuruͤck. Ich nahm mir vor, alle meine
Gefuͤhle in dieſer Vorſtellung zu verbinden, ich
ſah jetzt meine ungluͤckliche Liebe als ein Opfer
an, das ich der Tugend und der Nothwendig-
keit gebracht hatte. Ich fand in vielen Stun-
den Troſt in dieſem Gedanken, und ich nahm
mir von neuem vor, ein recht edler und voll-
endeter Menſch zu werden, alle die gewoͤhnli-
chen Armſeeligkeiten wegzuwerfen und mich
ganz der hohen Vorſtellung zu weihen, die mein
Herz erweiterte. Dieſer Vorſatz iſt es eigent-
lich nur, der den Menſchen ſo oft uͤber dieſe
Welt hinuͤberhebt, denn in der langſamen und
weitſchweifigen Ausuͤbung geht bald aller En-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 441[414]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/421>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.