Bey den meisten Menschen ist der Enthu- siasmus für das Große und die Tugend nur eine Vorbereitung zur Liebe, es ist derselbe Trieb, der sich nur in die Allgemeinheit ver- liert und Ideen sucht, weil er keinen Gegen- stand vor sich hat: die Liebe verarbeitet die Menschen eine Zeitlang und führt sie nachher zur Sinnlichkeit, einem Wege, auf dem sie verständiger, aber auch weit größere Thoren als vorher werden können. Es ist der Kreuz- weg, auf dem die Meisten sich in verwickelten Irrgängen verlieren und umzukehren glauben, wenn sie immer tiefer in die Wildniß hinein- rennen.
Mein Vater starb, als ich sechszehn Jahr alt war, ein tauber Schmerz erdrückte und ver- finsterte meinen Geist, ich glaubte alles verlo- ren zu haben; ein Irrthum, den jeder Mensch beym ersten Verluste begeht, weil er noch nicht in den Wechsel des Lebens eingelernt ist. -- Ich trieb mich lange in der Einsamkeit herum, um meinem Schmerze nachzuhängen und aus ihm nach der ersten Betäubung eine Art von Kunst-
Liebe.
Bey den meiſten Menſchen iſt der Enthu- ſiasmus fuͤr das Große und die Tugend nur eine Vorbereitung zur Liebe, es iſt derſelbe Trieb, der ſich nur in die Allgemeinheit ver- liert und Ideen ſucht, weil er keinen Gegen- ſtand vor ſich hat: die Liebe verarbeitet die Menſchen eine Zeitlang und fuͤhrt ſie nachher zur Sinnlichkeit, einem Wege, auf dem ſie verſtaͤndiger, aber auch weit groͤßere Thoren als vorher werden koͤnnen. Es iſt der Kreuz- weg, auf dem die Meiſten ſich in verwickelten Irrgaͤngen verlieren und umzukehren glauben, wenn ſie immer tiefer in die Wildniß hinein- rennen.
Mein Vater ſtarb, als ich ſechszehn Jahr alt war, ein tauber Schmerz erdruͤckte und ver- finſterte meinen Geiſt, ich glaubte alles verlo- ren zu haben; ein Irrthum, den jeder Menſch beym erſten Verluſte begeht, weil er noch nicht in den Wechſel des Lebens eingelernt iſt. — Ich trieb mich lange in der Einſamkeit herum, um meinem Schmerze nachzuhaͤngen und aus ihm nach der erſten Betaͤubung eine Art von Kunſt-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0412"n="405"/><divn="3"><head><hirendition="#g">Liebe</hi>.</head><lb/><p>Bey den meiſten Menſchen iſt der Enthu-<lb/>ſiasmus fuͤr das Große und die Tugend nur<lb/>
eine Vorbereitung zur <hirendition="#g">Liebe</hi>, es iſt derſelbe<lb/>
Trieb, der ſich nur in die Allgemeinheit ver-<lb/>
liert und Ideen ſucht, weil er keinen Gegen-<lb/>ſtand vor ſich hat: die Liebe verarbeitet die<lb/>
Menſchen eine Zeitlang und fuͤhrt ſie nachher<lb/>
zur Sinnlichkeit, einem Wege, auf dem ſie<lb/>
verſtaͤndiger, aber auch weit groͤßere Thoren<lb/>
als vorher werden koͤnnen. Es iſt der Kreuz-<lb/>
weg, auf dem die Meiſten ſich in verwickelten<lb/>
Irrgaͤngen verlieren und umzukehren glauben,<lb/>
wenn ſie immer tiefer in die Wildniß hinein-<lb/>
rennen.</p><lb/><p>Mein Vater ſtarb, als ich ſechszehn Jahr<lb/>
alt war, ein tauber Schmerz erdruͤckte und ver-<lb/>
finſterte meinen Geiſt, ich glaubte alles verlo-<lb/>
ren zu haben; ein Irrthum, den jeder Menſch<lb/>
beym erſten Verluſte begeht, weil er noch nicht<lb/>
in den Wechſel des Lebens eingelernt iſt. — Ich<lb/>
trieb mich lange in der Einſamkeit herum, um<lb/>
meinem Schmerze nachzuhaͤngen und aus ihm<lb/>
nach der erſten Betaͤubung eine Art von Kunſt-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[405/0412]
Liebe.
Bey den meiſten Menſchen iſt der Enthu-
ſiasmus fuͤr das Große und die Tugend nur
eine Vorbereitung zur Liebe, es iſt derſelbe
Trieb, der ſich nur in die Allgemeinheit ver-
liert und Ideen ſucht, weil er keinen Gegen-
ſtand vor ſich hat: die Liebe verarbeitet die
Menſchen eine Zeitlang und fuͤhrt ſie nachher
zur Sinnlichkeit, einem Wege, auf dem ſie
verſtaͤndiger, aber auch weit groͤßere Thoren
als vorher werden koͤnnen. Es iſt der Kreuz-
weg, auf dem die Meiſten ſich in verwickelten
Irrgaͤngen verlieren und umzukehren glauben,
wenn ſie immer tiefer in die Wildniß hinein-
rennen.
Mein Vater ſtarb, als ich ſechszehn Jahr
alt war, ein tauber Schmerz erdruͤckte und ver-
finſterte meinen Geiſt, ich glaubte alles verlo-
ren zu haben; ein Irrthum, den jeder Menſch
beym erſten Verluſte begeht, weil er noch nicht
in den Wechſel des Lebens eingelernt iſt. — Ich
trieb mich lange in der Einſamkeit herum, um
meinem Schmerze nachzuhaͤngen und aus ihm
nach der erſten Betaͤubung eine Art von Kunſt-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/412>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.