Als in der Stube ein Licht angezündet war, sah ich ein entstelltes schmutziges Geschöpf vor mir, mit triefenden Augen, von mittlerer Größe und, wie alle ihres Gelichters, mit einem schamlosen Betragen. Als wir uns ge- nauer betrachteten, schrie sie laut auf, und ich erinnerte mich ihrer Züge dunkel. Sie befreite mich bald von meiner Ungewißheit und nannte mir ihren Namen. Denken Sie sich mein Er- staunen, Rosa, als ich erfuhr, daß es niemand anders, als die kleine Blondine war, die Sie von Paris mitgenommen hatten, die unter dem Namen Ferdinand Sie begleitete.
Sie wußte jetzt nicht recht, wie sie sich mit mir nehmen solle; sie fing an, auf die un- verschämteste Weise in der Stube umherzu- schwärmen, freche Lieder zu singen und mich dann in ihre Arme zu schließen; ich blieb ernst- haft, und plötzlich brachen ihre Thränen, wie ein lange zurückgehaltener Strom, hervor, sie warf sich in einer Ecke des Zimmers auf den Boden und schluchzte laut. Ich war ungewiß, ob ich bleiben sollte; ihre Stellung rührte mich, sie hatte das Gesicht mit den Händen verdeckt, es schien, als wollte sie sich aus Schaam in
Als in der Stube ein Licht angezuͤndet war, ſah ich ein entſtelltes ſchmutziges Geſchoͤpf vor mir, mit triefenden Augen, von mittlerer Groͤße und, wie alle ihres Gelichters, mit einem ſchamloſen Betragen. Als wir uns ge- nauer betrachteten, ſchrie ſie laut auf, und ich erinnerte mich ihrer Zuͤge dunkel. Sie befreite mich bald von meiner Ungewißheit und nannte mir ihren Namen. Denken Sie ſich mein Er- ſtaunen, Roſa, als ich erfuhr, daß es niemand anders, als die kleine Blondine war, die Sie von Paris mitgenommen hatten, die unter dem Namen Ferdinand Sie begleitete.
Sie wußte jetzt nicht recht, wie ſie ſich mit mir nehmen ſolle; ſie fing an, auf die un- verſchaͤmteſte Weiſe in der Stube umherzu- ſchwaͤrmen, freche Lieder zu ſingen und mich dann in ihre Arme zu ſchließen; ich blieb ernſt- haft, und ploͤtzlich brachen ihre Thraͤnen, wie ein lange zuruͤckgehaltener Strom, hervor, ſie warf ſich in einer Ecke des Zimmers auf den Boden und ſchluchzte laut. Ich war ungewiß, ob ich bleiben ſollte; ihre Stellung ruͤhrte mich, ſie hatte das Geſicht mit den Haͤnden verdeckt, es ſchien, als wollte ſie ſich aus Schaam in
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0334"n="327"/><p>Als in der Stube ein Licht angezuͤndet<lb/>
war, ſah ich ein entſtelltes ſchmutziges Geſchoͤpf<lb/>
vor mir, mit triefenden Augen, von mittlerer<lb/>
Groͤße und, wie alle ihres Gelichters, mit<lb/>
einem ſchamloſen Betragen. Als wir uns ge-<lb/>
nauer betrachteten, ſchrie ſie laut auf, und ich<lb/>
erinnerte mich ihrer Zuͤge dunkel. Sie befreite<lb/>
mich bald von meiner Ungewißheit und nannte<lb/>
mir ihren Namen. Denken Sie ſich mein Er-<lb/>ſtaunen, Roſa, als ich erfuhr, daß es niemand<lb/>
anders, als die kleine Blondine war, die Sie<lb/>
von Paris mitgenommen hatten, die unter dem<lb/>
Namen Ferdinand Sie begleitete.</p><lb/><p>Sie wußte jetzt nicht recht, wie ſie ſich<lb/>
mit mir nehmen ſolle; ſie fing an, auf die un-<lb/>
verſchaͤmteſte Weiſe in der Stube umherzu-<lb/>ſchwaͤrmen, freche Lieder zu ſingen und mich<lb/>
dann in ihre Arme zu ſchließen; ich blieb ernſt-<lb/>
haft, und ploͤtzlich brachen ihre Thraͤnen, wie<lb/>
ein lange zuruͤckgehaltener Strom, hervor, ſie<lb/>
warf ſich in einer Ecke des Zimmers auf den<lb/>
Boden und ſchluchzte laut. Ich war ungewiß,<lb/>
ob ich bleiben ſollte; ihre Stellung ruͤhrte mich,<lb/>ſie hatte das Geſicht mit den Haͤnden verdeckt,<lb/>
es ſchien, als wollte ſie ſich aus Schaam in<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[327/0334]
Als in der Stube ein Licht angezuͤndet
war, ſah ich ein entſtelltes ſchmutziges Geſchoͤpf
vor mir, mit triefenden Augen, von mittlerer
Groͤße und, wie alle ihres Gelichters, mit
einem ſchamloſen Betragen. Als wir uns ge-
nauer betrachteten, ſchrie ſie laut auf, und ich
erinnerte mich ihrer Zuͤge dunkel. Sie befreite
mich bald von meiner Ungewißheit und nannte
mir ihren Namen. Denken Sie ſich mein Er-
ſtaunen, Roſa, als ich erfuhr, daß es niemand
anders, als die kleine Blondine war, die Sie
von Paris mitgenommen hatten, die unter dem
Namen Ferdinand Sie begleitete.
Sie wußte jetzt nicht recht, wie ſie ſich
mit mir nehmen ſolle; ſie fing an, auf die un-
verſchaͤmteſte Weiſe in der Stube umherzu-
ſchwaͤrmen, freche Lieder zu ſingen und mich
dann in ihre Arme zu ſchließen; ich blieb ernſt-
haft, und ploͤtzlich brachen ihre Thraͤnen, wie
ein lange zuruͤckgehaltener Strom, hervor, ſie
warf ſich in einer Ecke des Zimmers auf den
Boden und ſchluchzte laut. Ich war ungewiß,
ob ich bleiben ſollte; ihre Stellung ruͤhrte mich,
ſie hatte das Geſicht mit den Haͤnden verdeckt,
es ſchien, als wollte ſie ſich aus Schaam in
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/334>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.