Ihre Briefe, lieber William, haben die leb- hafteste Theilnahme bey mir erregt. Ich halte es für den betrübtesten Anblick, wenn ein Freund, der unser Herz so nahe angeht, sich und seine Vorsätze so sehr aus den Augen ver- liert. Ihre Briefe sind alle ein Beweis eines gewissen zerrütteten Zustandes, der Sie verhin- dert, sich selbst in Ihrer Gewalt zu haben. Mit Freuden würde ich Sie aus Ihrer unan- genehmen Lage ziehn, wenn es auf irgend eine Art in meiner Gewalt stände, aber ich weiß nicht, ob Sie es nie bemerkt haben, als Sie hier waren, (wenn es nicht ist, so muß ich es Ihnen jetzt offenherzig gestehn) daß ich in der allergrößten Abhängigkeit von Andrea lebe. Er sucht mich selbst immer in einer gewissen Ver- legenheit zu erhalten, aus Ursachen, die ich frei- lich nicht begreifen kann. Er ist eigensinnig, so sehr er mir auch meistentheils gewogen scheint,
36. Roſa an William Lovell.
Rom.
Ihre Briefe, lieber William, haben die leb- hafteſte Theilnahme bey mir erregt. Ich halte es fuͤr den betruͤbteſten Anblick, wenn ein Freund, der unſer Herz ſo nahe angeht, ſich und ſeine Vorſaͤtze ſo ſehr aus den Augen ver- liert. Ihre Briefe ſind alle ein Beweis eines gewiſſen zerruͤtteten Zuſtandes, der Sie verhin- dert, ſich ſelbſt in Ihrer Gewalt zu haben. Mit Freuden wuͤrde ich Sie aus Ihrer unan- genehmen Lage ziehn, wenn es auf irgend eine Art in meiner Gewalt ſtaͤnde, aber ich weiß nicht, ob Sie es nie bemerkt haben, als Sie hier waren, (wenn es nicht iſt, ſo muß ich es Ihnen jetzt offenherzig geſtehn) daß ich in der allergroͤßten Abhaͤngigkeit von Andrea lebe. Er ſucht mich ſelbſt immer in einer gewiſſen Ver- legenheit zu erhalten, aus Urſachen, die ich frei- lich nicht begreifen kann. Er iſt eigenſinnig, ſo ſehr er mir auch meiſtentheils gewogen ſcheint,
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36.
Roſa an William Lovell.
Rom.
Ihre Briefe, lieber William, haben die leb-
hafteſte Theilnahme bey mir erregt. Ich halte
es fuͤr den betruͤbteſten Anblick, wenn ein
Freund, der unſer Herz ſo nahe angeht, ſich
und ſeine Vorſaͤtze ſo ſehr aus den Augen ver-
liert. Ihre Briefe ſind alle ein Beweis eines
gewiſſen zerruͤtteten Zuſtandes, der Sie verhin-
dert, ſich ſelbſt in Ihrer Gewalt zu haben.
Mit Freuden wuͤrde ich Sie aus Ihrer unan-
genehmen Lage ziehn, wenn es auf irgend eine
Art in meiner Gewalt ſtaͤnde, aber ich weiß
nicht, ob Sie es nie bemerkt haben, als Sie
hier waren, (wenn es nicht iſt, ſo muß ich es
Ihnen jetzt offenherzig geſtehn) daß ich in der
allergroͤßten Abhaͤngigkeit von Andrea lebe. Er
ſucht mich ſelbſt immer in einer gewiſſen Ver-
legenheit zu erhalten, aus Urſachen, die ich frei-
lich nicht begreifen kann. Er iſt eigenſinnig,
ſo ſehr er mir auch meiſtentheils gewogen ſcheint,
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/261>, abgerufen am 21.11.2024.
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