vorkam. -- Man kann wirklich annehmen, daß wir, so wie Andrea und alle Menschen, in einem gewissen Grade wahnsinnig oder toll sind, wir glauben es aber nur von denen, bei denen diese Tollheit eine solche Konsistenz erhalten hat, daß sie zur sichtbaren Einheit wird und daß man sie als ein seltsames Kunstwerk betrachten kann. Aber jedermann hat irgend etwas an sich, das wahrhaftig nicht im mindesten mit seinem ordi- nären, sogenannten Verstande zusammenhängt. Ich habe Leute gesehen, die Geschmack hatten, und die abgeschmacktesten verschimmelten Schar- teken mit einem solchen Eifer zusammenkauften, als wenn es ihre Lieblingsschriftsteller gewesen wären; andere, die philosophische Schriften über alles rühmten und von einigen behaupte- ten, daß man sie nicht oft genug lesen könne, die sie aber nie lasen; Freigeister giebt es, die vor ihrem Schatten zittern, Abergläubische, deren Handlungen ewig ihren Ueberzeugungen widersprechen. Es ist als wenn dieser Kampf von ungleichartigem Wesen in uns das hervor- brächte, was wir einen gewöhnlichen Menschen nennen; wer von dieser Komposition abweicht, auf der einen oder andern Seite ausschweift
vorkam. — Man kann wirklich annehmen, daß wir, ſo wie Andrea und alle Menſchen, in einem gewiſſen Grade wahnſinnig oder toll ſind, wir glauben es aber nur von denen, bei denen dieſe Tollheit eine ſolche Konſiſtenz erhalten hat, daß ſie zur ſichtbaren Einheit wird und daß man ſie als ein ſeltſames Kunſtwerk betrachten kann. Aber jedermann hat irgend etwas an ſich, das wahrhaftig nicht im mindeſten mit ſeinem ordi- naͤren, ſogenannten Verſtande zuſammenhaͤngt. Ich habe Leute geſehen, die Geſchmack hatten, und die abgeſchmackteſten verſchimmelten Schar- teken mit einem ſolchen Eifer zuſammenkauften, als wenn es ihre Lieblingsſchriftſteller geweſen waͤren; andere, die philoſophiſche Schriften uͤber alles ruͤhmten und von einigen behaupte- ten, daß man ſie nicht oft genug leſen koͤnne, die ſie aber nie laſen; Freigeiſter giebt es, die vor ihrem Schatten zittern, Aberglaͤubiſche, deren Handlungen ewig ihren Ueberzeugungen widerſprechen. Es iſt als wenn dieſer Kampf von ungleichartigem Weſen in uns das hervor- braͤchte, was wir einen gewoͤhnlichen Menſchen nennen; wer von dieſer Kompoſition abweicht, auf der einen oder andern Seite ausſchweift
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0181"n="174"/>
vorkam. — Man kann wirklich annehmen, daß<lb/>
wir, ſo wie Andrea und alle Menſchen, in einem<lb/>
gewiſſen Grade wahnſinnig oder toll ſind, wir<lb/>
glauben es aber nur von denen, bei denen dieſe<lb/>
Tollheit eine ſolche Konſiſtenz erhalten hat, daß<lb/>ſie zur ſichtbaren Einheit wird und daß man ſie<lb/>
als ein ſeltſames Kunſtwerk betrachten kann.<lb/>
Aber jedermann hat irgend etwas an ſich, das<lb/>
wahrhaftig nicht im mindeſten mit ſeinem ordi-<lb/>
naͤren, ſogenannten Verſtande zuſammenhaͤngt.<lb/>
Ich habe Leute geſehen, die Geſchmack hatten,<lb/>
und die abgeſchmackteſten verſchimmelten Schar-<lb/>
teken mit einem ſolchen Eifer zuſammenkauften,<lb/>
als wenn es ihre Lieblingsſchriftſteller geweſen<lb/>
waͤren; andere, die philoſophiſche Schriften<lb/>
uͤber alles ruͤhmten und von einigen behaupte-<lb/>
ten, daß man ſie nicht oft genug leſen koͤnne,<lb/>
die ſie aber nie laſen; Freigeiſter giebt es, die<lb/>
vor ihrem Schatten zittern, Aberglaͤubiſche,<lb/>
deren Handlungen ewig ihren Ueberzeugungen<lb/>
widerſprechen. Es iſt als wenn dieſer Kampf<lb/>
von ungleichartigem Weſen in uns das hervor-<lb/>
braͤchte, was wir einen gewoͤhnlichen Menſchen<lb/>
nennen; wer von dieſer Kompoſition abweicht,<lb/>
auf der einen oder andern Seite ausſchweift<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[174/0181]
vorkam. — Man kann wirklich annehmen, daß
wir, ſo wie Andrea und alle Menſchen, in einem
gewiſſen Grade wahnſinnig oder toll ſind, wir
glauben es aber nur von denen, bei denen dieſe
Tollheit eine ſolche Konſiſtenz erhalten hat, daß
ſie zur ſichtbaren Einheit wird und daß man ſie
als ein ſeltſames Kunſtwerk betrachten kann.
Aber jedermann hat irgend etwas an ſich, das
wahrhaftig nicht im mindeſten mit ſeinem ordi-
naͤren, ſogenannten Verſtande zuſammenhaͤngt.
Ich habe Leute geſehen, die Geſchmack hatten,
und die abgeſchmackteſten verſchimmelten Schar-
teken mit einem ſolchen Eifer zuſammenkauften,
als wenn es ihre Lieblingsſchriftſteller geweſen
waͤren; andere, die philoſophiſche Schriften
uͤber alles ruͤhmten und von einigen behaupte-
ten, daß man ſie nicht oft genug leſen koͤnne,
die ſie aber nie laſen; Freigeiſter giebt es, die
vor ihrem Schatten zittern, Aberglaͤubiſche,
deren Handlungen ewig ihren Ueberzeugungen
widerſprechen. Es iſt als wenn dieſer Kampf
von ungleichartigem Weſen in uns das hervor-
braͤchte, was wir einen gewoͤhnlichen Menſchen
nennen; wer von dieſer Kompoſition abweicht,
auf der einen oder andern Seite ausſchweift
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/181>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.