chen Brief zu schreiben? -- Doch, ich will oh- ne Umschweife zu Ihnen sprechen.
Seit einem Jahre kenne ich Sie und An- drea, und ich hielt im Anfange Andrea's Be- kanntschaft für das höchste Glück meines Lebens. Er gab meinem Geiste eine gewisse enthusiastische Richtung, die ich bis dahin noch nicht gekannt hatte. Meine Seele ward durch ihn für mün- dig erklärt, und sie erschrak im ersten Augen- blicke über das große Vermögen, das ihr jetzt plötzlich zu Gebote stand, und eben dieses Er- schrecken war die Ursache, daß ich es viel zu hoch anrechnete; ich hatte viel gewonnen, aber doch noch nicht die Kunst, mich selbst zu beobachten, und richtig zu schätzen. Es liegt vielleicht et- was Wahres darin, daß der Mensch, der zuerst den ganzen Gebrauch seines Verstandes lernt, dem Verliebten gleicht, beide bringen sich und ihren Zustand viel zu hoch in Anschlag, beide halten den Gegenstand ihrer Liebe für den ein- zigen in der Welt. Andrea nahm mir Vorur- theile und Irrthümer; ich hatte vieles bis da- hin angenommen, ohne je darüber gedacht zu haben, meine eigene Seele war mir gleichsam fremd geblieben, und ich hatte das große Feld
chen Brief zu ſchreiben? — Doch, ich will oh- ne Umſchweife zu Ihnen ſprechen.
Seit einem Jahre kenne ich Sie und An- drea, und ich hielt im Anfange Andrea's Be- kanntſchaft fuͤr das hoͤchſte Gluͤck meines Lebens. Er gab meinem Geiſte eine gewiſſe enthuſiaſtiſche Richtung, die ich bis dahin noch nicht gekannt hatte. Meine Seele ward durch ihn fuͤr muͤn- dig erklaͤrt, und ſie erſchrak im erſten Augen- blicke uͤber das große Vermoͤgen, das ihr jetzt ploͤtzlich zu Gebote ſtand, und eben dieſes Er- ſchrecken war die Urſache, daß ich es viel zu hoch anrechnete; ich hatte viel gewonnen, aber doch noch nicht die Kunſt, mich ſelbſt zu beobachten, und richtig zu ſchaͤtzen. Es liegt vielleicht et- was Wahres darin, daß der Menſch, der zuerſt den ganzen Gebrauch ſeines Verſtandes lernt, dem Verliebten gleicht, beide bringen ſich und ihren Zuſtand viel zu hoch in Anſchlag, beide halten den Gegenſtand ihrer Liebe fuͤr den ein- zigen in der Welt. Andrea nahm mir Vorur- theile und Irrthuͤmer; ich hatte vieles bis da- hin angenommen, ohne je daruͤber gedacht zu haben, meine eigene Seele war mir gleichſam fremd geblieben, und ich hatte das große Feld
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chen Brief zu ſchreiben? — Doch, ich will oh-
ne Umſchweife zu Ihnen ſprechen.
Seit einem Jahre kenne ich Sie und An-
drea, und ich hielt im Anfange Andrea's Be-
kanntſchaft fuͤr das hoͤchſte Gluͤck meines Lebens.
Er gab meinem Geiſte eine gewiſſe enthuſiaſtiſche
Richtung, die ich bis dahin noch nicht gekannt
hatte. Meine Seele ward durch ihn fuͤr muͤn-
dig erklaͤrt, und ſie erſchrak im erſten Augen-
blicke uͤber das große Vermoͤgen, das ihr jetzt
ploͤtzlich zu Gebote ſtand, und eben dieſes Er-
ſchrecken war die Urſache, daß ich es viel zu hoch
anrechnete; ich hatte viel gewonnen, aber doch
noch nicht die Kunſt, mich ſelbſt zu beobachten,
und richtig zu ſchaͤtzen. Es liegt vielleicht et-
was Wahres darin, daß der Menſch, der zuerſt
den ganzen Gebrauch ſeines Verſtandes lernt,
dem Verliebten gleicht, beide bringen ſich und
ihren Zuſtand viel zu hoch in Anſchlag, beide
halten den Gegenſtand ihrer Liebe fuͤr den ein-
zigen in der Welt. Andrea nahm mir Vorur-
theile und Irrthuͤmer; ich hatte vieles bis da-
hin angenommen, ohne je daruͤber gedacht zu
haben, meine eigene Seele war mir gleichſam
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/172>, abgerufen am 27.11.2024.
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