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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796.

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letzte und einzige Zweck, weswegen ich bisher
gelebt hätte, ihr nur noch einmal zu sagen, daß
ich noch lebe, daß ich sie noch, wie ehemals,
liebe. Ich glaubte, daß ich nach diesem Augen-
blicke ruhig und zufrieden seyn würde, daß ich
dann Tod und Leben mit gleich festem Auge be-
trachten könnte. Alle Empfindungen meiner
früheren Jugend kamen zurück, ich wünschte im
Momente der Erkennung an ihrem Halse zu
sterben, kein Gefühl und keinen Gedanken weiter
nach diesem Stillstande meiner Seele zu erleben.
-- O wär' ich, wär' ich gestorben! Tod und
Grab sind das einzige Asyl des verfolgten Elen-
den. Dürft' ich diese Wohnung der Ruhe be-
suchen, losgeschüttelt vom wilden Getümmel
der lebendigen Welt: aber alles, worauf ich
mich freute, kömmt mir kalt und freudenleer nä-
her, und geht so vorüber, ich bleibe einsam zu-
rück, und sehe dem Zuge nach, der sich nicht
weiter um mich kümmert. Ich will auch auf
keine Freude weiter hoffen, ich will die kalte
Luft als meinen Freund umfangen, ich will todt
seyn, in der todten Masse, die mich umgiebt,
kein Gefühl soll mir näher treten, ich will alle
Sehnsucht, alles Schmachten nach Liebe in die-

letzte und einzige Zweck, weswegen ich bisher
gelebt haͤtte, ihr nur noch einmal zu ſagen, daß
ich noch lebe, daß ich ſie noch, wie ehemals,
liebe. Ich glaubte, daß ich nach dieſem Augen-
blicke ruhig und zufrieden ſeyn wuͤrde, daß ich
dann Tod und Leben mit gleich feſtem Auge be-
trachten koͤnnte. Alle Empfindungen meiner
fruͤheren Jugend kamen zuruͤck, ich wuͤnſchte im
Momente der Erkennung an ihrem Halſe zu
ſterben, kein Gefuͤhl und keinen Gedanken weiter
nach dieſem Stillſtande meiner Seele zu erleben.
— O waͤr' ich, waͤr' ich geſtorben! Tod und
Grab ſind das einzige Aſyl des verfolgten Elen-
den. Duͤrft' ich dieſe Wohnung der Ruhe be-
ſuchen, losgeſchuͤttelt vom wilden Getuͤmmel
der lebendigen Welt: aber alles, worauf ich
mich freute, koͤmmt mir kalt und freudenleer naͤ-
her, und geht ſo voruͤber, ich bleibe einſam zu-
ruͤck, und ſehe dem Zuge nach, der ſich nicht
weiter um mich kuͤmmert. Ich will auch auf
keine Freude weiter hoffen, ich will die kalte
Luft als meinen Freund umfangen, ich will todt
ſeyn, in der todten Maſſe, die mich umgiebt,
kein Gefuͤhl ſoll mir naͤher treten, ich will alle
Sehnſucht, alles Schmachten nach Liebe in die-

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[123/0130] letzte und einzige Zweck, weswegen ich bisher gelebt haͤtte, ihr nur noch einmal zu ſagen, daß ich noch lebe, daß ich ſie noch, wie ehemals, liebe. Ich glaubte, daß ich nach dieſem Augen- blicke ruhig und zufrieden ſeyn wuͤrde, daß ich dann Tod und Leben mit gleich feſtem Auge be- trachten koͤnnte. Alle Empfindungen meiner fruͤheren Jugend kamen zuruͤck, ich wuͤnſchte im Momente der Erkennung an ihrem Halſe zu ſterben, kein Gefuͤhl und keinen Gedanken weiter nach dieſem Stillſtande meiner Seele zu erleben. — O waͤr' ich, waͤr' ich geſtorben! Tod und Grab ſind das einzige Aſyl des verfolgten Elen- den. Duͤrft' ich dieſe Wohnung der Ruhe be- ſuchen, losgeſchuͤttelt vom wilden Getuͤmmel der lebendigen Welt: aber alles, worauf ich mich freute, koͤmmt mir kalt und freudenleer naͤ- her, und geht ſo voruͤber, ich bleibe einſam zu- ruͤck, und ſehe dem Zuge nach, der ſich nicht weiter um mich kuͤmmert. Ich will auch auf keine Freude weiter hoffen, ich will die kalte Luft als meinen Freund umfangen, ich will todt ſeyn, in der todten Maſſe, die mich umgiebt, kein Gefuͤhl ſoll mir naͤher treten, ich will alle Sehnſucht, alles Schmachten nach Liebe in die-

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/130>, abgerufen am 27.11.2024.