Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

gern die Beurtheilung unsers Werths; ja wir
glauben oft, daß diejenigen ihn am besten zu
schätzen wissen, die selbst am meisten ohne Ver-
dienste sind. Die größte Inkonsequenz der
Menschen, die Gegend, in der vielleicht in
jeder Seele die meisten Verächtlichkeiten liegen,
ist, wie ich glaube, das Gebiet der Eitelkeit.
Jede andre Schwäche ist unzugänglich, oder
man muß wenigstens fein und behutsam die
Brücke hinüber schlagen, um das Ufer nicht
selbst einzureißen; aber die Eitelkeit verträgt
selbst die Behandlung der rauhesten Hände.

Ich will mir heute ernsthaft vornehmen, nie
daran zu glauben, wenn man meinen Gang,
meine Häuser, meinen Scharfsinn, oder meine
Gesichtsbildung lobt, und wer weiß ob ich
nicht darauf falle, mir einzubilden, daß in mei-
nem Garten die besten Blumen stehen, und daß
hier dann ein elender Schmeichler seine volle
Erndte findet! Der Himmel ist vielleicht so
grausam mir in den Kopf zu setzen, ich hätte
mehr Geschmack als andere Menschen. -- O!
statt memento mori sollte man in seine Ta-
schenuhr setzen lassen: Hüte dich vor der Ei-
telkeit!


gern die Beurtheilung unſers Werths; ja wir
glauben oft, daß diejenigen ihn am beſten zu
ſchaͤtzen wiſſen, die ſelbſt am meiſten ohne Ver-
dienſte ſind. Die groͤßte Inkonſequenz der
Menſchen, die Gegend, in der vielleicht in
jeder Seele die meiſten Veraͤchtlichkeiten liegen,
iſt, wie ich glaube, das Gebiet der Eitelkeit.
Jede andre Schwaͤche iſt unzugaͤnglich, oder
man muß wenigſtens fein und behutſam die
Bruͤcke hinuͤber ſchlagen, um das Ufer nicht
ſelbſt einzureißen; aber die Eitelkeit vertraͤgt
ſelbſt die Behandlung der rauheſten Haͤnde.

Ich will mir heute ernſthaft vornehmen, nie
daran zu glauben, wenn man meinen Gang,
meine Haͤuſer, meinen Scharfſinn, oder meine
Geſichtsbildung lobt, und wer weiß ob ich
nicht darauf falle, mir einzubilden, daß in mei-
nem Garten die beſten Blumen ſtehen, und daß
hier dann ein elender Schmeichler ſeine volle
Erndte findet! Der Himmel iſt vielleicht ſo
grauſam mir in den Kopf zu ſetzen, ich haͤtte
mehr Geſchmack als andere Menſchen. — O!
ſtatt memento mori ſollte man in ſeine Ta-
ſchenuhr ſetzen laſſen: Huͤte dich vor der Ei-
telkeit!


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0421" n="415"/>
gern die Beurtheilung un&#x017F;ers Werths; ja wir<lb/>
glauben oft, daß diejenigen ihn am be&#x017F;ten zu<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;tzen wi&#x017F;&#x017F;en, die &#x017F;elb&#x017F;t am mei&#x017F;ten ohne Ver-<lb/>
dien&#x017F;te &#x017F;ind. Die gro&#x0364;ßte Inkon&#x017F;equenz der<lb/>
Men&#x017F;chen, die Gegend, in der vielleicht in<lb/>
jeder Seele die mei&#x017F;ten Vera&#x0364;chtlichkeiten liegen,<lb/>
i&#x017F;t, wie ich glaube, das Gebiet der Eitelkeit.<lb/>
Jede andre Schwa&#x0364;che i&#x017F;t unzuga&#x0364;nglich, oder<lb/>
man muß wenig&#x017F;tens fein und behut&#x017F;am die<lb/>
Bru&#x0364;cke hinu&#x0364;ber &#x017F;chlagen, um das Ufer nicht<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t einzureißen; aber die Eitelkeit vertra&#x0364;gt<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t die Behandlung der rauhe&#x017F;ten Ha&#x0364;nde.</p><lb/>
            <p>Ich will mir heute ern&#x017F;thaft vornehmen, nie<lb/>
daran zu glauben, wenn man meinen Gang,<lb/>
meine Ha&#x0364;u&#x017F;er, meinen Scharf&#x017F;inn, oder meine<lb/>
Ge&#x017F;ichtsbildung lobt, und wer weiß ob ich<lb/>
nicht darauf falle, mir einzubilden, daß in mei-<lb/>
nem Garten die be&#x017F;ten Blumen &#x017F;tehen, und daß<lb/>
hier dann ein elender Schmeichler &#x017F;eine volle<lb/>
Erndte findet! Der Himmel i&#x017F;t vielleicht &#x017F;o<lb/>
grau&#x017F;am mir in den Kopf zu &#x017F;etzen, ich ha&#x0364;tte<lb/>
mehr Ge&#x017F;chmack als andere Men&#x017F;chen. &#x2014; O!<lb/>
&#x017F;tatt <hi rendition="#aq">memento mori</hi> &#x017F;ollte man in &#x017F;eine Ta-<lb/>
&#x017F;chenuhr &#x017F;etzen la&#x017F;&#x017F;en: Hu&#x0364;te dich vor der Ei-<lb/>
telkeit!</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[415/0421] gern die Beurtheilung unſers Werths; ja wir glauben oft, daß diejenigen ihn am beſten zu ſchaͤtzen wiſſen, die ſelbſt am meiſten ohne Ver- dienſte ſind. Die groͤßte Inkonſequenz der Menſchen, die Gegend, in der vielleicht in jeder Seele die meiſten Veraͤchtlichkeiten liegen, iſt, wie ich glaube, das Gebiet der Eitelkeit. Jede andre Schwaͤche iſt unzugaͤnglich, oder man muß wenigſtens fein und behutſam die Bruͤcke hinuͤber ſchlagen, um das Ufer nicht ſelbſt einzureißen; aber die Eitelkeit vertraͤgt ſelbſt die Behandlung der rauheſten Haͤnde. Ich will mir heute ernſthaft vornehmen, nie daran zu glauben, wenn man meinen Gang, meine Haͤuſer, meinen Scharfſinn, oder meine Geſichtsbildung lobt, und wer weiß ob ich nicht darauf falle, mir einzubilden, daß in mei- nem Garten die beſten Blumen ſtehen, und daß hier dann ein elender Schmeichler ſeine volle Erndte findet! Der Himmel iſt vielleicht ſo grauſam mir in den Kopf zu ſetzen, ich haͤtte mehr Geſchmack als andere Menſchen. — O! ſtatt memento mori ſollte man in ſeine Ta- ſchenuhr ſetzen laſſen: Huͤte dich vor der Ei- telkeit!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/421
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 415. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/421>, abgerufen am 22.11.2024.