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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796.

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4.
Rosa an William Lovell.


Ihr Brief hat mich sehr amüsirt, lieber Freund;
er macht so ein wahres Gemählde des Menschen
aus, daß ich ihn oft gelesen habe. -- Vorzüg-
lich lustig ist die Schwermuth, mit der er an-
hebt; und der Uebergang aus diesem Adagio
in das gesetzte und feste Andante ist so überra-
schend und doch so natürlich, daß mir alles so
deutlich war, als hätte ich es selbst geschrieben.
Ich denke, Sie werden noch öfter ähnliche Er-
fahrungen an sich machen, und die Klagen wer-
den sich, wenn Sie sonst wollen, eben so kalt
und philosophisch schließen, wie dieser Brief es
thut. Es ist leider eben so demüthigend als
wahr, daß bei Ihrer Melancholie nicht die phi-
losophische, sondern die medicinische Untersu-
chung die richtigere war. Bianka hat sie von ei-
ner Krankheit geheilt, die kein Weiser, kein
Dichter, kein Spaziergang, kein Gemählde, kei-
ne Musik heilen konnte.

Die klemmende unbekannte Sehnsucht, die
so oft den Busen des Jünglings und des auf-

4.
Roſa an William Lovell.


Ihr Brief hat mich ſehr amuͤſirt, lieber Freund;
er macht ſo ein wahres Gemaͤhlde des Menſchen
aus, daß ich ihn oft geleſen habe. — Vorzuͤg-
lich luſtig iſt die Schwermuth, mit der er an-
hebt; und der Uebergang aus dieſem Adagio
in das geſetzte und feſte Andante iſt ſo uͤberra-
ſchend und doch ſo natuͤrlich, daß mir alles ſo
deutlich war, als haͤtte ich es ſelbſt geſchrieben.
Ich denke, Sie werden noch oͤfter aͤhnliche Er-
fahrungen an ſich machen, und die Klagen wer-
den ſich, wenn Sie ſonſt wollen, eben ſo kalt
und philoſophiſch ſchließen, wie dieſer Brief es
thut. Es iſt leider eben ſo demuͤthigend als
wahr, daß bei Ihrer Melancholie nicht die phi-
loſophiſche, ſondern die mediciniſche Unterſu-
chung die richtigere war. Bianka hat ſie von ei-
ner Krankheit geheilt, die kein Weiſer, kein
Dichter, kein Spaziergang, kein Gemaͤhlde, kei-
ne Muſik heilen konnte.

Die klemmende unbekannte Sehnſucht, die
ſo oft den Buſen des Juͤnglings und des auf-

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[27/0033] 4. Roſa an William Lovell. Neapel. Ihr Brief hat mich ſehr amuͤſirt, lieber Freund; er macht ſo ein wahres Gemaͤhlde des Menſchen aus, daß ich ihn oft geleſen habe. — Vorzuͤg- lich luſtig iſt die Schwermuth, mit der er an- hebt; und der Uebergang aus dieſem Adagio in das geſetzte und feſte Andante iſt ſo uͤberra- ſchend und doch ſo natuͤrlich, daß mir alles ſo deutlich war, als haͤtte ich es ſelbſt geſchrieben. Ich denke, Sie werden noch oͤfter aͤhnliche Er- fahrungen an ſich machen, und die Klagen wer- den ſich, wenn Sie ſonſt wollen, eben ſo kalt und philoſophiſch ſchließen, wie dieſer Brief es thut. Es iſt leider eben ſo demuͤthigend als wahr, daß bei Ihrer Melancholie nicht die phi- loſophiſche, ſondern die mediciniſche Unterſu- chung die richtigere war. Bianka hat ſie von ei- ner Krankheit geheilt, die kein Weiſer, kein Dichter, kein Spaziergang, kein Gemaͤhlde, kei- ne Muſik heilen konnte. Die klemmende unbekannte Sehnſucht, die ſo oft den Buſen des Juͤnglings und des auf-

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/33>, abgerufen am 21.11.2024.