Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite
10.
Rosa an William Lovell.


Ich kann Ihre Frage nicht so beantworten,
lieber Freund, daß Sie mit meiner Antwort
zufrieden seyn werden. Die Gedanken und Em-
pfindungen drehen sich im Menschen wie zwey
Zirkel herum, die sich in Einem Punkte berüh-
ren, an diesem wissen wir nicht zu unterschei-
den, was Idee und Gefühl ist, und wir halten
uns dann für vollendet. Die Zirkel drehn sich
weiter, und wir glauben uns dann wieder ver-
ständiger, weil wir beydes zu sondern wissen.
Der Mensch ist sich selbst so räthselhaft, daß er
entweder gar nicht über sich nachdenken, oder
aus diesem Nachdenken sein Hauptstudium ma-
chen muß: wer in der Mitte stehen bleibt, fühlt
sich unbefriedigt und unglücklich. -- Ich sinne
oft dem Gange meiner Ideen nach, und ver-
wickele mich nur um so tiefer in diese Labyrin-
the, je mehr ich nachsinne. So viel ist gewiß,
daß wir gewöhnlich viel zu sehr den gegenwär-
tigen Moment vor Augen haben, und darüber

10.
Roſa an William Lovell.


Ich kann Ihre Frage nicht ſo beantworten,
lieber Freund, daß Sie mit meiner Antwort
zufrieden ſeyn werden. Die Gedanken und Em-
pfindungen drehen ſich im Menſchen wie zwey
Zirkel herum, die ſich in Einem Punkte beruͤh-
ren, an dieſem wiſſen wir nicht zu unterſchei-
den, was Idee und Gefuͤhl iſt, und wir halten
uns dann fuͤr vollendet. Die Zirkel drehn ſich
weiter, und wir glauben uns dann wieder ver-
ſtaͤndiger, weil wir beydes zu ſondern wiſſen.
Der Menſch iſt ſich ſelbſt ſo raͤthſelhaft, daß er
entweder gar nicht uͤber ſich nachdenken, oder
aus dieſem Nachdenken ſein Hauptſtudium ma-
chen muß: wer in der Mitte ſtehen bleibt, fuͤhlt
ſich unbefriedigt und ungluͤcklich. — Ich ſinne
oft dem Gange meiner Ideen nach, und ver-
wickele mich nur um ſo tiefer in dieſe Labyrin-
the, je mehr ich nachſinne. So viel iſt gewiß,
daß wir gewoͤhnlich viel zu ſehr den gegenwaͤr-
tigen Moment vor Augen haben, und daruͤber

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0268" n="262"/>
        <div n="2">
          <head>10.<lb/><hi rendition="#g">Ro&#x017F;a</hi> an <hi rendition="#g">William Lovell</hi>.</head><lb/>
          <dateline>
            <placeName> <hi rendition="#right"><hi rendition="#g">Rom</hi>.</hi> </placeName>
          </dateline><lb/>
          <p><hi rendition="#in">I</hi>ch kann Ihre Frage nicht &#x017F;o beantworten,<lb/>
lieber Freund, daß Sie mit meiner Antwort<lb/>
zufrieden &#x017F;eyn werden. Die Gedanken und Em-<lb/>
pfindungen drehen &#x017F;ich im Men&#x017F;chen wie zwey<lb/>
Zirkel herum, die &#x017F;ich in Einem Punkte beru&#x0364;h-<lb/>
ren, an die&#x017F;em wi&#x017F;&#x017F;en wir nicht zu unter&#x017F;chei-<lb/>
den, was Idee und Gefu&#x0364;hl i&#x017F;t, und wir halten<lb/>
uns dann fu&#x0364;r vollendet. Die Zirkel drehn &#x017F;ich<lb/>
weiter, und wir glauben uns dann wieder ver-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;ndiger, weil wir beydes zu &#x017F;ondern wi&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Der Men&#x017F;ch i&#x017F;t &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;o ra&#x0364;th&#x017F;elhaft, daß er<lb/>
entweder gar nicht u&#x0364;ber &#x017F;ich nachdenken, oder<lb/>
aus die&#x017F;em Nachdenken &#x017F;ein Haupt&#x017F;tudium ma-<lb/>
chen muß: wer in der Mitte &#x017F;tehen bleibt, fu&#x0364;hlt<lb/>
&#x017F;ich unbefriedigt und unglu&#x0364;cklich. &#x2014; Ich &#x017F;inne<lb/>
oft dem Gange meiner Ideen nach, und ver-<lb/>
wickele mich nur um &#x017F;o tiefer in die&#x017F;e Labyrin-<lb/>
the, je mehr ich nach&#x017F;inne. So viel i&#x017F;t gewiß,<lb/>
daß wir gewo&#x0364;hnlich viel zu &#x017F;ehr den gegenwa&#x0364;r-<lb/>
tigen Moment vor Augen haben, und daru&#x0364;ber<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[262/0268] 10. Roſa an William Lovell. Rom. Ich kann Ihre Frage nicht ſo beantworten, lieber Freund, daß Sie mit meiner Antwort zufrieden ſeyn werden. Die Gedanken und Em- pfindungen drehen ſich im Menſchen wie zwey Zirkel herum, die ſich in Einem Punkte beruͤh- ren, an dieſem wiſſen wir nicht zu unterſchei- den, was Idee und Gefuͤhl iſt, und wir halten uns dann fuͤr vollendet. Die Zirkel drehn ſich weiter, und wir glauben uns dann wieder ver- ſtaͤndiger, weil wir beydes zu ſondern wiſſen. Der Menſch iſt ſich ſelbſt ſo raͤthſelhaft, daß er entweder gar nicht uͤber ſich nachdenken, oder aus dieſem Nachdenken ſein Hauptſtudium ma- chen muß: wer in der Mitte ſtehen bleibt, fuͤhlt ſich unbefriedigt und ungluͤcklich. — Ich ſinne oft dem Gange meiner Ideen nach, und ver- wickele mich nur um ſo tiefer in dieſe Labyrin- the, je mehr ich nachſinne. So viel iſt gewiß, daß wir gewoͤhnlich viel zu ſehr den gegenwaͤr- tigen Moment vor Augen haben, und daruͤber

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/268
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/268>, abgerufen am 23.11.2024.