Ich kann Ihre Frage nicht so beantworten, lieber Freund, daß Sie mit meiner Antwort zufrieden seyn werden. Die Gedanken und Em- pfindungen drehen sich im Menschen wie zwey Zirkel herum, die sich in Einem Punkte berüh- ren, an diesem wissen wir nicht zu unterschei- den, was Idee und Gefühl ist, und wir halten uns dann für vollendet. Die Zirkel drehn sich weiter, und wir glauben uns dann wieder ver- ständiger, weil wir beydes zu sondern wissen. Der Mensch ist sich selbst so räthselhaft, daß er entweder gar nicht über sich nachdenken, oder aus diesem Nachdenken sein Hauptstudium ma- chen muß: wer in der Mitte stehen bleibt, fühlt sich unbefriedigt und unglücklich. -- Ich sinne oft dem Gange meiner Ideen nach, und ver- wickele mich nur um so tiefer in diese Labyrin- the, je mehr ich nachsinne. So viel ist gewiß, daß wir gewöhnlich viel zu sehr den gegenwär- tigen Moment vor Augen haben, und darüber
10. Roſa an William Lovell.
Rom.
Ich kann Ihre Frage nicht ſo beantworten, lieber Freund, daß Sie mit meiner Antwort zufrieden ſeyn werden. Die Gedanken und Em- pfindungen drehen ſich im Menſchen wie zwey Zirkel herum, die ſich in Einem Punkte beruͤh- ren, an dieſem wiſſen wir nicht zu unterſchei- den, was Idee und Gefuͤhl iſt, und wir halten uns dann fuͤr vollendet. Die Zirkel drehn ſich weiter, und wir glauben uns dann wieder ver- ſtaͤndiger, weil wir beydes zu ſondern wiſſen. Der Menſch iſt ſich ſelbſt ſo raͤthſelhaft, daß er entweder gar nicht uͤber ſich nachdenken, oder aus dieſem Nachdenken ſein Hauptſtudium ma- chen muß: wer in der Mitte ſtehen bleibt, fuͤhlt ſich unbefriedigt und ungluͤcklich. — Ich ſinne oft dem Gange meiner Ideen nach, und ver- wickele mich nur um ſo tiefer in dieſe Labyrin- the, je mehr ich nachſinne. So viel iſt gewiß, daß wir gewoͤhnlich viel zu ſehr den gegenwaͤr- tigen Moment vor Augen haben, und daruͤber
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10.
Roſa an William Lovell.
Rom.
Ich kann Ihre Frage nicht ſo beantworten,
lieber Freund, daß Sie mit meiner Antwort
zufrieden ſeyn werden. Die Gedanken und Em-
pfindungen drehen ſich im Menſchen wie zwey
Zirkel herum, die ſich in Einem Punkte beruͤh-
ren, an dieſem wiſſen wir nicht zu unterſchei-
den, was Idee und Gefuͤhl iſt, und wir halten
uns dann fuͤr vollendet. Die Zirkel drehn ſich
weiter, und wir glauben uns dann wieder ver-
ſtaͤndiger, weil wir beydes zu ſondern wiſſen.
Der Menſch iſt ſich ſelbſt ſo raͤthſelhaft, daß er
entweder gar nicht uͤber ſich nachdenken, oder
aus dieſem Nachdenken ſein Hauptſtudium ma-
chen muß: wer in der Mitte ſtehen bleibt, fuͤhlt
ſich unbefriedigt und ungluͤcklich. — Ich ſinne
oft dem Gange meiner Ideen nach, und ver-
wickele mich nur um ſo tiefer in dieſe Labyrin-
the, je mehr ich nachſinne. So viel iſt gewiß,
daß wir gewoͤhnlich viel zu ſehr den gegenwaͤr-
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/268>, abgerufen am 23.11.2024.
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