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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796.

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einem Gefühle, das die verlaßne Wüste wieder
anbaut. Die verschiedenen Gedankensysteme der
Menschen sind nur zufällige Kunstwerke, die je-
der sich so oder so aufbaut, und mit diesen oder
jenen Zierrathen aufputzt, je nachdem es ihm
gutdünkt. So wie dieser die Tragödie, jener
die Komödie liebt, ein andrer das lyrische, ein
andrer das didaktische Gedicht; so macht sich
der eine die stoische, der andre die akademische
oder epikurische Philosophie zu eigen; aber alles
sind nur die Außenwerke des Menschen, das
Gefühl ist er selbst, das Gefühl ist die Seele,
der Geist, die Philosophie der Buchstabe die-
ses Geistes; todte Zeichenschrift, wenn der
Mensch sich nicht am Ende über alle Philoso-
phie und Systeme, selbst über das System der
Systemlosigkeit erhebt. Dieses Gefühl stößt so
Zweifel als Gewißheit um, es sucht und bedarf
keiner Worte, sondern befriedigt sich in sich selbst,
und der Mensch, der auf diesen Punkt gekom-
men ist, kehrt zu irgend einem Glauben zurück,
denn Glaube und Gefühl ist eins: so wird selbst
der wildeste Freygeist am Ende religiös, ja er
kann selbst das werden, was die Menschen ge-
wöhnlich einen Schwärmer nennen, und wobey

Lovell. 2r Bd. R

einem Gefuͤhle, das die verlaßne Wuͤſte wieder
anbaut. Die verſchiedenen Gedankenſyſteme der
Menſchen ſind nur zufaͤllige Kunſtwerke, die je-
der ſich ſo oder ſo aufbaut, und mit dieſen oder
jenen Zierrathen aufputzt, je nachdem es ihm
gutduͤnkt. So wie dieſer die Tragoͤdie, jener
die Komoͤdie liebt, ein andrer das lyriſche, ein
andrer das didaktiſche Gedicht; ſo macht ſich
der eine die ſtoiſche, der andre die akademiſche
oder epikuriſche Philoſophie zu eigen; aber alles
ſind nur die Außenwerke des Menſchen, das
Gefuͤhl iſt er ſelbſt, das Gefuͤhl iſt die Seele,
der Geiſt, die Philoſophie der Buchſtabe die-
ſes Geiſtes; todte Zeichenſchrift, wenn der
Menſch ſich nicht am Ende uͤber alle Philoſo-
phie und Syſteme, ſelbſt uͤber das Syſtem der
Syſtemloſigkeit erhebt. Dieſes Gefuͤhl ſtoͤßt ſo
Zweifel als Gewißheit um, es ſucht und bedarf
keiner Worte, ſondern befriedigt ſich in ſich ſelbſt,
und der Menſch, der auf dieſen Punkt gekom-
men iſt, kehrt zu irgend einem Glauben zuruͤck,
denn Glaube und Gefuͤhl iſt eins: ſo wird ſelbſt
der wildeſte Freygeiſt am Ende religioͤs, ja er
kann ſelbſt das werden, was die Menſchen ge-
woͤhnlich einen Schwaͤrmer nennen, und wobey

Lovell. 2r Bd. R
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[257/0263] einem Gefuͤhle, das die verlaßne Wuͤſte wieder anbaut. Die verſchiedenen Gedankenſyſteme der Menſchen ſind nur zufaͤllige Kunſtwerke, die je- der ſich ſo oder ſo aufbaut, und mit dieſen oder jenen Zierrathen aufputzt, je nachdem es ihm gutduͤnkt. So wie dieſer die Tragoͤdie, jener die Komoͤdie liebt, ein andrer das lyriſche, ein andrer das didaktiſche Gedicht; ſo macht ſich der eine die ſtoiſche, der andre die akademiſche oder epikuriſche Philoſophie zu eigen; aber alles ſind nur die Außenwerke des Menſchen, das Gefuͤhl iſt er ſelbſt, das Gefuͤhl iſt die Seele, der Geiſt, die Philoſophie der Buchſtabe die- ſes Geiſtes; todte Zeichenſchrift, wenn der Menſch ſich nicht am Ende uͤber alle Philoſo- phie und Syſteme, ſelbſt uͤber das Syſtem der Syſtemloſigkeit erhebt. Dieſes Gefuͤhl ſtoͤßt ſo Zweifel als Gewißheit um, es ſucht und bedarf keiner Worte, ſondern befriedigt ſich in ſich ſelbſt, und der Menſch, der auf dieſen Punkt gekom- men iſt, kehrt zu irgend einem Glauben zuruͤck, denn Glaube und Gefuͤhl iſt eins: ſo wird ſelbſt der wildeſte Freygeiſt am Ende religioͤs, ja er kann ſelbſt das werden, was die Menſchen ge- woͤhnlich einen Schwaͤrmer nennen, und wobey Lovell. 2r Bd. R

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/263>, abgerufen am 24.11.2024.