Wo bleibst Du doch, Anthonio, daß ich Dich gestern gar nicht gesehn habe? Willst Du mich denn ganz allein lassen? -- Ach, ich habe viel zu Gott und seinen Engeln gebetet, aber mir ist keine Erhörung geworden, recht ohne Trost bin ich vom Himmel, wie eine Sünderin, ab- gewiesen. -- Die Saiten auf meiner Laute sind gesprungen, und ich mag keine neue auf- ziehn: meine Laute, die ich von Kindheit auf kenne, die ich sonst so innig liebte. Siehst Du, so weit ist es schon mit mir gekommen. Die Thränen sind eine Gabe des Himmels, ich kann manchmal ordentlich gar nicht weinen, wenn ich es auch so gerne möchte. -- O komm, komm, Anthonio, ich bin sonst wie ein Kind, das sich im Walde verirrt hat. Alles erschreckt mich, aber wenn Du da bist, ist es wieder wie ein Frühlingsschein um mich her. -- Wenn ich Dich heut nicht sehe, kann ich wieder die ganze Nacht nicht schlafen; mir fällt so mancherley ein, wovor mir graut. -- Ach, wohl dem ar- men Pietro, daß er todt ist! --
57. Roſaline an Anthonio.
Wo bleibſt Du doch, Anthonio, daß ich Dich geſtern gar nicht geſehn habe? Willſt Du mich denn ganz allein laſſen? — Ach, ich habe viel zu Gott und ſeinen Engeln gebetet, aber mir iſt keine Erhoͤrung geworden, recht ohne Troſt bin ich vom Himmel, wie eine Suͤnderin, ab- gewieſen. — Die Saiten auf meiner Laute ſind geſprungen, und ich mag keine neue auf- ziehn: meine Laute, die ich von Kindheit auf kenne, die ich ſonſt ſo innig liebte. Siehſt Du, ſo weit iſt es ſchon mit mir gekommen. Die Thraͤnen ſind eine Gabe des Himmels, ich kann manchmal ordentlich gar nicht weinen, wenn ich es auch ſo gerne moͤchte. — O komm, komm, Anthonio, ich bin ſonſt wie ein Kind, das ſich im Walde verirrt hat. Alles erſchreckt mich, aber wenn Du da biſt, iſt es wieder wie ein Fruͤhlingsſchein um mich her. — Wenn ich Dich heut nicht ſehe, kann ich wieder die ganze Nacht nicht ſchlafen; mir faͤllt ſo mancherley ein, wovor mir graut. — Ach, wohl dem ar- men Pietro, daß er todt iſt! —
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57.
Roſaline an Anthonio.
Wo bleibſt Du doch, Anthonio, daß ich Dich
geſtern gar nicht geſehn habe? Willſt Du mich
denn ganz allein laſſen? — Ach, ich habe viel
zu Gott und ſeinen Engeln gebetet, aber mir
iſt keine Erhoͤrung geworden, recht ohne Troſt
bin ich vom Himmel, wie eine Suͤnderin, ab-
gewieſen. — Die Saiten auf meiner Laute
ſind geſprungen, und ich mag keine neue auf-
ziehn: meine Laute, die ich von Kindheit auf
kenne, die ich ſonſt ſo innig liebte. Siehſt Du,
ſo weit iſt es ſchon mit mir gekommen. Die
Thraͤnen ſind eine Gabe des Himmels, ich kann
manchmal ordentlich gar nicht weinen, wenn
ich es auch ſo gerne moͤchte. — O komm, komm,
Anthonio, ich bin ſonſt wie ein Kind, das ſich
im Walde verirrt hat. Alles erſchreckt mich,
aber wenn Du da biſt, iſt es wieder wie ein
Fruͤhlingsſchein um mich her. — Wenn ich
Dich heut nicht ſehe, kann ich wieder die ganze
Nacht nicht ſchlafen; mir faͤllt ſo mancherley
ein, wovor mir graut. — Ach, wohl dem ar-
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/206>, abgerufen am 22.12.2024.
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