Sie fangen an mit Ihrer Geschichte recht amü- sant zu werden. Es ist ja alles so schön, wie man es nur im besten Romane verlangen kann. Ich wünsche Ihnen Glück, denn es ist gewiß, daß nichts uns unser trocknes, prosaisches Le- ben so poetisch macht, als irgend eine seltsame Situation, in die wir uns selber versetzen. Im Grunde besteht unser ganzes Leben nur aus sol- chen Situationen, und ich tadle Sie daher gar nicht, wenn Sie sich Ihre Empfindungen so lebhaft als möglich machen. Fahren Sie nur fort, eben so aufrichtig gegen mich zu seyn, als bisher, so werden mir Ihre Nachrichten viel Vergnügen machen. Seyn Sie aber auch, wenn es irgend möglich ist, aufrichtig gegen sich selbst: denn sonst entsteht am Ende eine gewisse fade Leere, die man sich mit Enthusiasmus auszufül- len zwingt; dies sind die widrigsten Epochen des Lebens. Man quält sich dann, das Interesse noch an denselben Gegenständen zu finden, weil
33. Roſa an William Lovell.
Tivoli.
Sie fangen an mit Ihrer Geſchichte recht amuͤ- ſant zu werden. Es iſt ja alles ſo ſchoͤn, wie man es nur im beſten Romane verlangen kann. Ich wuͤnſche Ihnen Gluͤck, denn es iſt gewiß, daß nichts uns unſer trocknes, proſaiſches Le- ben ſo poetiſch macht, als irgend eine ſeltſame Situation, in die wir uns ſelber verſetzen. Im Grunde beſteht unſer ganzes Leben nur aus ſol- chen Situationen, und ich tadle Sie daher gar nicht, wenn Sie ſich Ihre Empfindungen ſo lebhaft als moͤglich machen. Fahren Sie nur fort, eben ſo aufrichtig gegen mich zu ſeyn, als bisher, ſo werden mir Ihre Nachrichten viel Vergnuͤgen machen. Seyn Sie aber auch, wenn es irgend moͤglich iſt, aufrichtig gegen ſich ſelbſt: denn ſonſt entſteht am Ende eine gewiſſe fade Leere, die man ſich mit Enthuſiasmus auszufuͤl- len zwingt; dies ſind die widrigſten Epochen des Lebens. Man quaͤlt ſich dann, das Intereſſe noch an denſelben Gegenſtaͤnden zu finden, weil
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0147"n="141"/><divn="2"><head>33.<lb/><hirendition="#g">Roſa</hi> an <hirendition="#g">William Lovell</hi>.</head><lb/><dateline><placeName><hirendition="#right"><hirendition="#g">Tivoli</hi>.</hi></placeName></dateline><lb/><p><hirendition="#in">S</hi>ie fangen an mit Ihrer Geſchichte recht amuͤ-<lb/>ſant zu werden. Es iſt ja alles ſo ſchoͤn, wie<lb/>
man es nur im beſten Romane verlangen kann.<lb/>
Ich wuͤnſche Ihnen Gluͤck, denn es iſt gewiß,<lb/>
daß nichts uns unſer trocknes, proſaiſches Le-<lb/>
ben ſo poetiſch macht, als irgend eine ſeltſame<lb/>
Situation, in die wir uns ſelber verſetzen. Im<lb/>
Grunde beſteht unſer ganzes Leben nur aus ſol-<lb/>
chen Situationen, und ich tadle Sie daher gar<lb/>
nicht, wenn Sie ſich Ihre Empfindungen ſo<lb/>
lebhaft als moͤglich machen. Fahren Sie nur<lb/>
fort, eben ſo aufrichtig gegen mich zu ſeyn, als<lb/>
bisher, ſo werden mir Ihre Nachrichten viel<lb/>
Vergnuͤgen machen. Seyn Sie aber auch, wenn<lb/>
es irgend moͤglich iſt, aufrichtig gegen ſich ſelbſt:<lb/>
denn ſonſt entſteht am Ende eine gewiſſe fade<lb/>
Leere, die man ſich mit Enthuſiasmus auszufuͤl-<lb/>
len zwingt; dies ſind die widrigſten Epochen<lb/>
des Lebens. Man quaͤlt ſich dann, das Intereſſe<lb/>
noch an denſelben Gegenſtaͤnden zu finden, weil<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[141/0147]
33.
Roſa an William Lovell.
Tivoli.
Sie fangen an mit Ihrer Geſchichte recht amuͤ-
ſant zu werden. Es iſt ja alles ſo ſchoͤn, wie
man es nur im beſten Romane verlangen kann.
Ich wuͤnſche Ihnen Gluͤck, denn es iſt gewiß,
daß nichts uns unſer trocknes, proſaiſches Le-
ben ſo poetiſch macht, als irgend eine ſeltſame
Situation, in die wir uns ſelber verſetzen. Im
Grunde beſteht unſer ganzes Leben nur aus ſol-
chen Situationen, und ich tadle Sie daher gar
nicht, wenn Sie ſich Ihre Empfindungen ſo
lebhaft als moͤglich machen. Fahren Sie nur
fort, eben ſo aufrichtig gegen mich zu ſeyn, als
bisher, ſo werden mir Ihre Nachrichten viel
Vergnuͤgen machen. Seyn Sie aber auch, wenn
es irgend moͤglich iſt, aufrichtig gegen ſich ſelbſt:
denn ſonſt entſteht am Ende eine gewiſſe fade
Leere, die man ſich mit Enthuſiasmus auszufuͤl-
len zwingt; dies ſind die widrigſten Epochen
des Lebens. Man quaͤlt ſich dann, das Intereſſe
noch an denſelben Gegenſtaͤnden zu finden, weil
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/147>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.