ter hielten Wacht an dem Lager des schlafenden Elenden, -- keine Wüste war unbewohnt, seine Götter landeten mit dem Verirrten an fremde Gestade, Sturmwinde und Quellen sprachen in verständlichen Tönen, in der schönen Natur stand der Mensch unbefangen da, wie ein ge- liebtes Kind im Kreise seiner zärtlichen Fa- milie, -- aber itzt, o Eduard, schon oft hab' ich es gewünscht und ich sag' es Dir ungescheut, -- ich bedaure es, daß man den entzückten Menschen so nahe an das schöne Gemählde ge- führt hat, daß die täuschenden Perspektive ver- fliegen: wir lachen itzt über die, die sich einst von diesen grobaufgetragenen Farben, von diesen verwirrten Strichen und Schatten hintergehn ließen und Leben auf der todten Leinwand fan- den, -- wir haben den Betrug mit Einem drei- sten Schritte enträthselt, -- aber was haben wir damit gewonnen? Die Gestalten sind verschwun- den, aber unser Blick dringt doch nicht durch den Vorhang, -- und wenn er es könnte, wür- den wir mit diesen körperlichen Augen et- was wahrnehmen? Ist der Mensch nicht zur Täuschung mit seinen Sinnen geschaffen, -- wie ist es möglich, daß sie jemahls aufhöre? --
ter hielten Wacht an dem Lager des ſchlafenden Elenden, — keine Wuͤſte war unbewohnt, ſeine Goͤtter landeten mit dem Verirrten an fremde Geſtade, Sturmwinde und Quellen ſprachen in verſtaͤndlichen Toͤnen, in der ſchoͤnen Natur ſtand der Menſch unbefangen da, wie ein ge- liebtes Kind im Kreiſe ſeiner zaͤrtlichen Fa- milie, — aber itzt, o Eduard, ſchon oft hab’ ich es gewuͤnſcht und ich ſag’ es Dir ungeſcheut, — ich bedaure es, daß man den entzuͤckten Menſchen ſo nahe an das ſchoͤne Gemaͤhlde ge- fuͤhrt hat, daß die taͤuſchenden Perſpektive ver- fliegen: wir lachen itzt uͤber die, die ſich einſt von dieſen grobaufgetragenen Farben, von dieſen verwirrten Strichen und Schatten hintergehn ließen und Leben auf der todten Leinwand fan- den, — wir haben den Betrug mit Einem drei- ſten Schritte entraͤthſelt, — aber was haben wir damit gewonnen? Die Geſtalten ſind verſchwun- den, aber unſer Blick dringt doch nicht durch den Vorhang, — und wenn er es koͤnnte, wuͤr- den wir mit dieſen koͤrperlichen Augen et- was wahrnehmen? Iſt der Menſch nicht zur Taͤuſchung mit ſeinen Sinnen geſchaffen, — wie iſt es moͤglich, daß ſie jemahls aufhoͤre? —
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[86[84]/0094]
ter hielten Wacht an dem Lager des ſchlafenden
Elenden, — keine Wuͤſte war unbewohnt, ſeine
Goͤtter landeten mit dem Verirrten an fremde
Geſtade, Sturmwinde und Quellen ſprachen in
verſtaͤndlichen Toͤnen, in der ſchoͤnen Natur
ſtand der Menſch unbefangen da, wie ein ge-
liebtes Kind im Kreiſe ſeiner zaͤrtlichen Fa-
milie, — aber itzt, o Eduard, ſchon oft hab’
ich es gewuͤnſcht und ich ſag’ es Dir ungeſcheut,
— ich bedaure es, daß man den entzuͤckten
Menſchen ſo nahe an das ſchoͤne Gemaͤhlde ge-
fuͤhrt hat, daß die taͤuſchenden Perſpektive ver-
fliegen: wir lachen itzt uͤber die, die ſich einſt
von dieſen grobaufgetragenen Farben, von dieſen
verwirrten Strichen und Schatten hintergehn
ließen und Leben auf der todten Leinwand fan-
den, — wir haben den Betrug mit Einem drei-
ſten Schritte entraͤthſelt, — aber was haben wir
damit gewonnen? Die Geſtalten ſind verſchwun-
den, aber unſer Blick dringt doch nicht durch
den Vorhang, — und wenn er es koͤnnte, wuͤr-
den wir mit dieſen koͤrperlichen Augen et-
was wahrnehmen? Iſt der Menſch nicht zur
Taͤuſchung mit ſeinen Sinnen geſchaffen, — wie
iſt es moͤglich, daß ſie jemahls aufhoͤre? —
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 86[84]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/94>, abgerufen am 25.11.2024.
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