Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite
29.
Balder an William Lovell.


Rosa will nach Rom zurückreisen; wenn Du
noch einiges Mitleids fähig bist, so leiste mir
einige Tage über Gesellschaft. Ich bin in einer
fürchterlichen Lage, meine Krankheit (wenn ich
es so nennen kann) nimmt mit jedem Tage zu,
alle Freuden und Hofnungen verlassen mich, in
einem kalten Trübsinne sehe ich der Leere jedes
folgenden Tages entgegen. Mein Gehirn ist
wüst, eine heiße Trockenheit brennt in meinem
Kopfe, alles flieht, ich kann keinen Gedanken
festhalten: alles saust mir vorüber, kein Ton
dringt mehr in meine Seele.

Mir ist zuweilen, als stehe ich auf dem
Scheidewege, um vom Leben Abschied zu neh-
men, oft ist mir sogar zu Muthe, als wenn
schon alles in einer weiten, weiten Ferne läge,
wie von der Spitze eines Thurmes seh ich mit
trübem Auge in die Welt hinunter und ver-
mag keinen Gegenstand deutlich zu unterschei-

29.
Balder an William Lovell.


Roſa will nach Rom zuruͤckreiſen; wenn Du
noch einiges Mitleids faͤhig biſt, ſo leiſte mir
einige Tage uͤber Geſellſchaft. Ich bin in einer
fuͤrchterlichen Lage, meine Krankheit (wenn ich
es ſo nennen kann) nimmt mit jedem Tage zu,
alle Freuden und Hofnungen verlaſſen mich, in
einem kalten Truͤbſinne ſehe ich der Leere jedes
folgenden Tages entgegen. Mein Gehirn iſt
wuͤſt, eine heiße Trockenheit brennt in meinem
Kopfe, alles flieht, ich kann keinen Gedanken
feſthalten: alles ſauſt mir voruͤber, kein Ton
dringt mehr in meine Seele.

Mir iſt zuweilen, als ſtehe ich auf dem
Scheidewege, um vom Leben Abſchied zu neh-
men, oft iſt mir ſogar zu Muthe, als wenn
ſchon alles in einer weiten, weiten Ferne laͤge,
wie von der Spitze eines Thurmes ſeh ich mit
truͤbem Auge in die Welt hinunter und ver-
mag keinen Gegenſtand deutlich zu unterſchei-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0337" n="329[327]"/>
        <div n="2">
          <head>29.<lb/>
Balder an William Lovell.</head><lb/>
          <dateline> <hi rendition="#et">Neapel.</hi> </dateline><lb/>
          <p><hi rendition="#in">R</hi>o&#x017F;a will nach Rom zuru&#x0364;ckrei&#x017F;en; wenn Du<lb/>
noch einiges Mitleids fa&#x0364;hig bi&#x017F;t, &#x017F;o lei&#x017F;te mir<lb/>
einige Tage u&#x0364;ber Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft. Ich bin in einer<lb/>
fu&#x0364;rchterlichen Lage, meine Krankheit (wenn ich<lb/>
es &#x017F;o nennen kann) nimmt mit jedem Tage zu,<lb/>
alle Freuden und Hofnungen verla&#x017F;&#x017F;en mich, in<lb/>
einem kalten Tru&#x0364;b&#x017F;inne &#x017F;ehe ich der Leere jedes<lb/>
folgenden Tages entgegen. Mein Gehirn i&#x017F;t<lb/>
wu&#x0364;&#x017F;t, eine heiße Trockenheit brennt in meinem<lb/>
Kopfe, alles flieht, ich kann keinen Gedanken<lb/>
fe&#x017F;thalten: alles &#x017F;au&#x017F;t mir voru&#x0364;ber, kein Ton<lb/>
dringt mehr in meine Seele.</p><lb/>
          <p>Mir i&#x017F;t zuweilen, als &#x017F;tehe ich auf dem<lb/>
Scheidewege, um vom Leben Ab&#x017F;chied zu neh-<lb/>
men, oft i&#x017F;t mir &#x017F;ogar zu Muthe, als wenn<lb/>
&#x017F;chon alles in einer weiten, weiten Ferne la&#x0364;ge,<lb/>
wie von der Spitze eines Thurmes &#x017F;eh ich mit<lb/>
tru&#x0364;bem Auge in die Welt hinunter und ver-<lb/>
mag keinen Gegen&#x017F;tand deutlich zu unter&#x017F;chei-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[329[327]/0337] 29. Balder an William Lovell. Neapel. Roſa will nach Rom zuruͤckreiſen; wenn Du noch einiges Mitleids faͤhig biſt, ſo leiſte mir einige Tage uͤber Geſellſchaft. Ich bin in einer fuͤrchterlichen Lage, meine Krankheit (wenn ich es ſo nennen kann) nimmt mit jedem Tage zu, alle Freuden und Hofnungen verlaſſen mich, in einem kalten Truͤbſinne ſehe ich der Leere jedes folgenden Tages entgegen. Mein Gehirn iſt wuͤſt, eine heiße Trockenheit brennt in meinem Kopfe, alles flieht, ich kann keinen Gedanken feſthalten: alles ſauſt mir voruͤber, kein Ton dringt mehr in meine Seele. Mir iſt zuweilen, als ſtehe ich auf dem Scheidewege, um vom Leben Abſchied zu neh- men, oft iſt mir ſogar zu Muthe, als wenn ſchon alles in einer weiten, weiten Ferne laͤge, wie von der Spitze eines Thurmes ſeh ich mit truͤbem Auge in die Welt hinunter und ver- mag keinen Gegenſtand deutlich zu unterſchei-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/337
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 329[327]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/337>, abgerufen am 22.12.2024.