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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795.

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nige haben den raschen, frechen Schritt vor-
wärts gethan, mit einem lauten Klang zersprin-
gen die Ketten hinter ihnen, sie stürzen unauf-
haltsam vorwärts, sie sind dem Blicke der Sterb-
lichen entrückt. Das Geisterreich thut sich ih-
nen auf, sie durchschauen die geheimen Gesetze
der Natur, ihr Sinn faßt das Ungedachte, in
flammenden Oceanen wühlt ihr nimmermüder
Geist, -- sie stehn jenseit der sterblichen Natur,
sie sind im Menschengeschlechte untergegangen,
-- sie sind der Gottheit näher gerückt, sie ver-
gessen der Rückkehr zur Erde -- und der ver-
schlossene Sinn brandmarkt mit kühner Will-
kühr ihre Weisheit Wahnsinn, ihre Entzük-
kung Raserei!

Balder sahe mich hier mit einem verwege-
nen Blicke an. -- Er fuhr fort:

Mein Freund Wildberg sah, trotz aller Täu-
schung, etwas was wir nicht sahen, -- können
wir wissen, was sie erblicken? Die Geschichte ist
wahr, aber wäre sie auch nichts als ein guter-
fundenes Mährchen, so würde sie mir doch sehr
werth seyn, da sie für mich einen so tiefen
Sinn enthält.


S 2

nige haben den raſchen, frechen Schritt vor-
waͤrts gethan, mit einem lauten Klang zerſprin-
gen die Ketten hinter ihnen, ſie ſtuͤrzen unauf-
haltſam vorwaͤrts, ſie ſind dem Blicke der Sterb-
lichen entruͤckt. Das Geiſterreich thut ſich ih-
nen auf, ſie durchſchauen die geheimen Geſetze
der Natur, ihr Sinn faßt das Ungedachte, in
flammenden Oceanen wuͤhlt ihr nimmermuͤder
Geiſt, — ſie ſtehn jenſeit der ſterblichen Natur,
ſie ſind im Menſchengeſchlechte untergegangen,
— ſie ſind der Gottheit naͤher geruͤckt, ſie ver-
geſſen der Ruͤckkehr zur Erde — und der ver-
ſchloſſene Sinn brandmarkt mit kuͤhner Will-
kuͤhr ihre Weisheit Wahnſinn, ihre Entzuͤk-
kung Raſerei!

Balder ſahe mich hier mit einem verwege-
nen Blicke an. — Er fuhr fort:

Mein Freund Wildberg ſah, trotz aller Taͤu-
ſchung, etwas was wir nicht ſahen, — koͤnnen
wir wiſſen, was ſie erblicken? Die Geſchichte iſt
wahr, aber waͤre ſie auch nichts als ein guter-
fundenes Maͤhrchen, ſo wuͤrde ſie mir doch ſehr
werth ſeyn, da ſie fuͤr mich einen ſo tiefen
Sinn enthaͤlt.


S 2
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[275[273]/0283] nige haben den raſchen, frechen Schritt vor- waͤrts gethan, mit einem lauten Klang zerſprin- gen die Ketten hinter ihnen, ſie ſtuͤrzen unauf- haltſam vorwaͤrts, ſie ſind dem Blicke der Sterb- lichen entruͤckt. Das Geiſterreich thut ſich ih- nen auf, ſie durchſchauen die geheimen Geſetze der Natur, ihr Sinn faßt das Ungedachte, in flammenden Oceanen wuͤhlt ihr nimmermuͤder Geiſt, — ſie ſtehn jenſeit der ſterblichen Natur, ſie ſind im Menſchengeſchlechte untergegangen, — ſie ſind der Gottheit naͤher geruͤckt, ſie ver- geſſen der Ruͤckkehr zur Erde — und der ver- ſchloſſene Sinn brandmarkt mit kuͤhner Will- kuͤhr ihre Weisheit Wahnſinn, ihre Entzuͤk- kung Raſerei! Balder ſahe mich hier mit einem verwege- nen Blicke an. — Er fuhr fort: Mein Freund Wildberg ſah, trotz aller Taͤu- ſchung, etwas was wir nicht ſahen, — koͤnnen wir wiſſen, was ſie erblicken? Die Geſchichte iſt wahr, aber waͤre ſie auch nichts als ein guter- fundenes Maͤhrchen, ſo wuͤrde ſie mir doch ſehr werth ſeyn, da ſie fuͤr mich einen ſo tiefen Sinn enthaͤlt. S 2

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 275[273]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/283>, abgerufen am 22.11.2024.