nige haben den raschen, frechen Schritt vor- wärts gethan, mit einem lauten Klang zersprin- gen die Ketten hinter ihnen, sie stürzen unauf- haltsam vorwärts, sie sind dem Blicke der Sterb- lichen entrückt. Das Geisterreich thut sich ih- nen auf, sie durchschauen die geheimen Gesetze der Natur, ihr Sinn faßt das Ungedachte, in flammenden Oceanen wühlt ihr nimmermüder Geist, -- sie stehn jenseit der sterblichen Natur, sie sind im Menschengeschlechte untergegangen, -- sie sind der Gottheit näher gerückt, sie ver- gessen der Rückkehr zur Erde -- und der ver- schlossene Sinn brandmarkt mit kühner Will- kühr ihre Weisheit Wahnsinn, ihre Entzük- kung Raserei!
Balder sahe mich hier mit einem verwege- nen Blicke an. -- Er fuhr fort:
Mein Freund Wildberg sah, trotz aller Täu- schung, etwas was wir nicht sahen, -- können wir wissen, was sie erblicken? Die Geschichte ist wahr, aber wäre sie auch nichts als ein guter- fundenes Mährchen, so würde sie mir doch sehr werth seyn, da sie für mich einen so tiefen Sinn enthält.
S 2
nige haben den raſchen, frechen Schritt vor- waͤrts gethan, mit einem lauten Klang zerſprin- gen die Ketten hinter ihnen, ſie ſtuͤrzen unauf- haltſam vorwaͤrts, ſie ſind dem Blicke der Sterb- lichen entruͤckt. Das Geiſterreich thut ſich ih- nen auf, ſie durchſchauen die geheimen Geſetze der Natur, ihr Sinn faßt das Ungedachte, in flammenden Oceanen wuͤhlt ihr nimmermuͤder Geiſt, — ſie ſtehn jenſeit der ſterblichen Natur, ſie ſind im Menſchengeſchlechte untergegangen, — ſie ſind der Gottheit naͤher geruͤckt, ſie ver- geſſen der Ruͤckkehr zur Erde — und der ver- ſchloſſene Sinn brandmarkt mit kuͤhner Will- kuͤhr ihre Weisheit Wahnſinn, ihre Entzuͤk- kung Raſerei!
Balder ſahe mich hier mit einem verwege- nen Blicke an. — Er fuhr fort:
Mein Freund Wildberg ſah, trotz aller Taͤu- ſchung, etwas was wir nicht ſahen, — koͤnnen wir wiſſen, was ſie erblicken? Die Geſchichte iſt wahr, aber waͤre ſie auch nichts als ein guter- fundenes Maͤhrchen, ſo wuͤrde ſie mir doch ſehr werth ſeyn, da ſie fuͤr mich einen ſo tiefen Sinn enthaͤlt.
S 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0283"n="275[273]"/>
nige haben den raſchen, frechen Schritt vor-<lb/>
waͤrts gethan, mit einem lauten Klang zerſprin-<lb/>
gen die Ketten hinter ihnen, ſie ſtuͤrzen unauf-<lb/>
haltſam vorwaͤrts, ſie ſind dem Blicke der Sterb-<lb/>
lichen entruͤckt. Das Geiſterreich thut ſich ih-<lb/>
nen auf, ſie durchſchauen die geheimen Geſetze<lb/>
der Natur, ihr Sinn faßt das Ungedachte, in<lb/>
flammenden Oceanen wuͤhlt ihr nimmermuͤder<lb/>
Geiſt, —ſie ſtehn jenſeit der ſterblichen Natur,<lb/>ſie ſind im Menſchengeſchlechte untergegangen,<lb/>—ſie ſind der Gottheit naͤher geruͤckt, ſie ver-<lb/>
geſſen der Ruͤckkehr zur Erde — und der ver-<lb/>ſchloſſene Sinn brandmarkt mit kuͤhner Will-<lb/>
kuͤhr ihre Weisheit <hirendition="#g">Wahnſinn</hi>, ihre Entzuͤk-<lb/>
kung <hirendition="#g">Raſerei</hi>!</p><lb/><p>Balder ſahe mich hier mit einem verwege-<lb/>
nen Blicke an. — Er fuhr fort:</p><lb/><p>Mein Freund Wildberg ſah, trotz aller Taͤu-<lb/>ſchung, etwas was wir nicht ſahen, — koͤnnen<lb/>
wir wiſſen, was ſie erblicken? Die Geſchichte iſt<lb/>
wahr, aber waͤre ſie auch nichts als ein guter-<lb/>
fundenes Maͤhrchen, ſo wuͤrde ſie mir doch ſehr<lb/>
werth ſeyn, da ſie fuͤr mich einen ſo tiefen<lb/>
Sinn enthaͤlt.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">S 2</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[275[273]/0283]
nige haben den raſchen, frechen Schritt vor-
waͤrts gethan, mit einem lauten Klang zerſprin-
gen die Ketten hinter ihnen, ſie ſtuͤrzen unauf-
haltſam vorwaͤrts, ſie ſind dem Blicke der Sterb-
lichen entruͤckt. Das Geiſterreich thut ſich ih-
nen auf, ſie durchſchauen die geheimen Geſetze
der Natur, ihr Sinn faßt das Ungedachte, in
flammenden Oceanen wuͤhlt ihr nimmermuͤder
Geiſt, — ſie ſtehn jenſeit der ſterblichen Natur,
ſie ſind im Menſchengeſchlechte untergegangen,
— ſie ſind der Gottheit naͤher geruͤckt, ſie ver-
geſſen der Ruͤckkehr zur Erde — und der ver-
ſchloſſene Sinn brandmarkt mit kuͤhner Will-
kuͤhr ihre Weisheit Wahnſinn, ihre Entzuͤk-
kung Raſerei!
Balder ſahe mich hier mit einem verwege-
nen Blicke an. — Er fuhr fort:
Mein Freund Wildberg ſah, trotz aller Taͤu-
ſchung, etwas was wir nicht ſahen, — koͤnnen
wir wiſſen, was ſie erblicken? Die Geſchichte iſt
wahr, aber waͤre ſie auch nichts als ein guter-
fundenes Maͤhrchen, ſo wuͤrde ſie mir doch ſehr
werth ſeyn, da ſie fuͤr mich einen ſo tiefen
Sinn enthaͤlt.
S 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 275[273]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/283>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.