tausend Vorurtheile in mir aufwuchsen und fe- ste Wurzel schlugen, die ganze Welt umher war nur ein Spiegel, in dem ich meine eigene Ge- stalt wiederfand. Unter allen meinen Bekann- ten zog mich keiner so an, als der junge Bur- ton, der damahls zwanzig Jahr alt war, nur wenig älter als ich selbst, unsre Bekanntschaft ward bald die vertrauteste Freundschaft: eine Freundschaft, wie gewöhnlich die erste unter fühlenden Jünglingen geknüpft zu werden pflegt, nach meiner Meinung für die Ewigkeit. Damon und Pylades waren mir noch zu geringe Ideale, meine erhitzte Phantasie versprach für den Freund alles zu thun, so wie sie jedes Opfer von ihm verlangte. In diesen Jahren giebt man sich nicht die Mühe, den Charakter des Freundes zu beobachten, oder man hat vielmehr nicht die Fähigkeit, dies zu thun; man glaubt sich selbst zu kennen und folglich auch den Freund, man trägt alles aus sich in ihn hin- über und das geblendete Auge findet auch in den beiden Charakteren die täuschendste Aehn- lichkeit. -- Eine solche Freundschaft dauert sel- ten über die ersten Jünglingsjahre hinaus; es kommt bei den meisten Menschen doch bald eine
tauſend Vorurtheile in mir aufwuchſen und fe- ſte Wurzel ſchlugen, die ganze Welt umher war nur ein Spiegel, in dem ich meine eigene Ge- ſtalt wiederfand. Unter allen meinen Bekann- ten zog mich keiner ſo an, als der junge Bur- ton, der damahls zwanzig Jahr alt war, nur wenig aͤlter als ich ſelbſt, unſre Bekanntſchaft ward bald die vertrauteſte Freundſchaft: eine Freundſchaft, wie gewoͤhnlich die erſte unter fuͤhlenden Juͤnglingen geknuͤpft zu werden pflegt, nach meiner Meinung fuͤr die Ewigkeit. Damon und Pylades waren mir noch zu geringe Ideale, meine erhitzte Phantaſie verſprach fuͤr den Freund alles zu thun, ſo wie ſie jedes Opfer von ihm verlangte. In dieſen Jahren giebt man ſich nicht die Muͤhe, den Charakter des Freundes zu beobachten, oder man hat vielmehr nicht die Faͤhigkeit, dies zu thun; man glaubt ſich ſelbſt zu kennen und folglich auch den Freund, man traͤgt alles aus ſich in ihn hin- uͤber und das geblendete Auge findet auch in den beiden Charakteren die taͤuſchendſte Aehn- lichkeit. — Eine ſolche Freundſchaft dauert ſel- ten uͤber die erſten Juͤnglingsjahre hinaus; es kommt bei den meiſten Menſchen doch bald eine
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0255"n="247[245]"/>
tauſend Vorurtheile in mir aufwuchſen und fe-<lb/>ſte Wurzel ſchlugen, die ganze Welt umher war<lb/>
nur ein Spiegel, in dem ich meine eigene Ge-<lb/>ſtalt wiederfand. Unter allen meinen Bekann-<lb/>
ten zog mich keiner ſo an, als der junge Bur-<lb/><hirendition="#g">ton</hi>, der damahls zwanzig Jahr alt war, nur<lb/>
wenig aͤlter als ich ſelbſt, unſre Bekanntſchaft<lb/>
ward bald die vertrauteſte Freundſchaft: eine<lb/>
Freundſchaft, wie gewoͤhnlich die erſte unter<lb/>
fuͤhlenden Juͤnglingen geknuͤpft zu werden pflegt,<lb/>
nach meiner Meinung fuͤr die Ewigkeit. Damon<lb/>
und Pylades waren mir noch zu geringe Ideale,<lb/>
meine erhitzte Phantaſie verſprach fuͤr den<lb/>
Freund alles zu thun, ſo wie ſie jedes Opfer<lb/>
von ihm verlangte. In dieſen Jahren giebt<lb/>
man ſich nicht die Muͤhe, den Charakter des<lb/>
Freundes zu beobachten, oder man hat vielmehr<lb/>
nicht die Faͤhigkeit, dies zu thun; man glaubt<lb/>ſich ſelbſt zu kennen und folglich auch den<lb/>
Freund, man traͤgt alles aus ſich in ihn hin-<lb/>
uͤber und das geblendete Auge findet auch in<lb/>
den beiden Charakteren die taͤuſchendſte Aehn-<lb/>
lichkeit. — Eine ſolche Freundſchaft dauert ſel-<lb/>
ten uͤber die erſten Juͤnglingsjahre hinaus; es<lb/>
kommt bei den meiſten Menſchen doch bald eine<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[247[245]/0255]
tauſend Vorurtheile in mir aufwuchſen und fe-
ſte Wurzel ſchlugen, die ganze Welt umher war
nur ein Spiegel, in dem ich meine eigene Ge-
ſtalt wiederfand. Unter allen meinen Bekann-
ten zog mich keiner ſo an, als der junge Bur-
ton, der damahls zwanzig Jahr alt war, nur
wenig aͤlter als ich ſelbſt, unſre Bekanntſchaft
ward bald die vertrauteſte Freundſchaft: eine
Freundſchaft, wie gewoͤhnlich die erſte unter
fuͤhlenden Juͤnglingen geknuͤpft zu werden pflegt,
nach meiner Meinung fuͤr die Ewigkeit. Damon
und Pylades waren mir noch zu geringe Ideale,
meine erhitzte Phantaſie verſprach fuͤr den
Freund alles zu thun, ſo wie ſie jedes Opfer
von ihm verlangte. In dieſen Jahren giebt
man ſich nicht die Muͤhe, den Charakter des
Freundes zu beobachten, oder man hat vielmehr
nicht die Faͤhigkeit, dies zu thun; man glaubt
ſich ſelbſt zu kennen und folglich auch den
Freund, man traͤgt alles aus ſich in ihn hin-
uͤber und das geblendete Auge findet auch in
den beiden Charakteren die taͤuſchendſte Aehn-
lichkeit. — Eine ſolche Freundſchaft dauert ſel-
ten uͤber die erſten Juͤnglingsjahre hinaus; es
kommt bei den meiſten Menſchen doch bald eine
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 247[245]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/255>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.