Ich gebe Dir recht, wenn Du behauptest, dies sey nichts als eine übertriebene Reizbar- keit der Empfindung, ein Gefühl, das im Grun- de eine Art von Hypochondrie sey, -- aber die- se Art zu fühlen hat mir von je so nahe gele- gen und bemeistert sich itzt meiner zuweilen so sehr, daß ich ihr nothwendig nachgeben muß. Ich kann mir itzt einen Karakter recht lebhaft denken, der alles traurig und melancholisch empfindet, und fühle es innig, wie elend er seyn muß. Dieser Gedanke und eine seltsame Art von Schwärmerei haben mich fast auf der ganzen Reise begleitet. Es war mir nehmlich oft, als hätte ich eine Gegend oder eine Stadt schon einmahl und zwar mit ganz andern Em- pfindungen und unter ganz verschiedenen Um- ständen gesehn; ich überließ mich dann dieser närrischen Träumerei und suchte die Erinnerun- gen dentlicher und haltbarer zu machen und mir jene Gefühle zurückzurufen, die ich ehemals in denselben Gegenden gehabt hätte. So reiht sich dann ein Traum an den andern, ein Spiel- werk der Phantasie drängt das andere und man ist endlich ganz aus der Gegenwart herausgeris-
Ich gebe Dir recht, wenn Du behaupteſt, dies ſey nichts als eine uͤbertriebene Reizbar- keit der Empfindung, ein Gefuͤhl, das im Grun- de eine Art von Hypochondrie ſey, — aber die- ſe Art zu fuͤhlen hat mir von je ſo nahe gele- gen und bemeiſtert ſich itzt meiner zuweilen ſo ſehr, daß ich ihr nothwendig nachgeben muß. Ich kann mir itzt einen Karakter recht lebhaft denken, der alles traurig und melancholiſch empfindet, und fuͤhle es innig, wie elend er ſeyn muß. Dieſer Gedanke und eine ſeltſame Art von Schwaͤrmerei haben mich faſt auf der ganzen Reiſe begleitet. Es war mir nehmlich oft, als haͤtte ich eine Gegend oder eine Stadt ſchon einmahl und zwar mit ganz andern Em- pfindungen und unter ganz verſchiedenen Um- ſtaͤnden geſehn; ich uͤberließ mich dann dieſer naͤrriſchen Traͤumerei und ſuchte die Erinnerun- gen dentlicher und haltbarer zu machen und mir jene Gefuͤhle zuruͤckzurufen, die ich ehemals in denſelben Gegenden gehabt haͤtte. So reiht ſich dann ein Traum an den andern, ein Spiel- werk der Phantaſie draͤngt das andere und man iſt endlich ganz aus der Gegenwart herausgeriſ-
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[239[237]/0247]
Ich gebe Dir recht, wenn Du behaupteſt,
dies ſey nichts als eine uͤbertriebene Reizbar-
keit der Empfindung, ein Gefuͤhl, das im Grun-
de eine Art von Hypochondrie ſey, — aber die-
ſe Art zu fuͤhlen hat mir von je ſo nahe gele-
gen und bemeiſtert ſich itzt meiner zuweilen ſo
ſehr, daß ich ihr nothwendig nachgeben muß.
Ich kann mir itzt einen Karakter recht lebhaft
denken, der alles traurig und melancholiſch
empfindet, und fuͤhle es innig, wie elend er
ſeyn muß. Dieſer Gedanke und eine ſeltſame
Art von Schwaͤrmerei haben mich faſt auf der
ganzen Reiſe begleitet. Es war mir nehmlich
oft, als haͤtte ich eine Gegend oder eine Stadt
ſchon einmahl und zwar mit ganz andern Em-
pfindungen und unter ganz verſchiedenen Um-
ſtaͤnden geſehn; ich uͤberließ mich dann dieſer
naͤrriſchen Traͤumerei und ſuchte die Erinnerun-
gen dentlicher und haltbarer zu machen und mir
jene Gefuͤhle zuruͤckzurufen, die ich ehemals in
denſelben Gegenden gehabt haͤtte. So reiht
ſich dann ein Traum an den andern, ein Spiel-
werk der Phantaſie draͤngt das andere und man
iſt endlich ganz aus der Gegenwart herausgeriſ-
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 239[237]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/247>, abgerufen am 22.11.2024.
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