habe ich manche Stunden zu danken, die zu den schönsten meines Lebens gehören, -- aber itzt ge- winnen die traurigen Vorstellungen zuweilen so sehr die Uebermacht in meiner Seele, daß sich ein düstrer Flor über alle andere Gegenstände verbreitet. Die Reise von Lyon durch Frank- reich war die reizendste, allenthalben frohe und singende Winzer, die ihre Schätze einsammel- ten, -- aber viele Meilen beschäftigte meine Phantasie ein weinender Bettler, den ich am Wege hatte sitzen sehn und dem ich im schnellen Vorüberfahren nichts hatte geben können. Mit welchen Gefühlen muß er den Frohsinn seiner glücklichen Brüder angesehn haben, da er gera- de sein Elend so tief empfand! Mit welchem Herzen muß er dem schnellen rollenden Wagen nachgeseufzt haben! -- Dann so manche kleine Scenen der Feindschaft und Verfolgung, einer kläglichen Eitelkeit, in der so viele Menschen den kleinen Winkel, in dem sie vegetiren, für den Mittelpunkt der Welt halten, -- ach, hun- dert so unbedeutende Sachen, die den meisten Reisenden gar nicht in die Augen fallen, haben mir in sehr vielen Stunden meine frohe Laune geraubt.
habe ich manche Stunden zu danken, die zu den ſchoͤnſten meines Lebens gehoͤren, — aber itzt ge- winnen die traurigen Vorſtellungen zuweilen ſo ſehr die Uebermacht in meiner Seele, daß ſich ein duͤſtrer Flor uͤber alle andere Gegenſtaͤnde verbreitet. Die Reiſe von Lyon durch Frank- reich war die reizendſte, allenthalben frohe und ſingende Winzer, die ihre Schaͤtze einſammel- ten, — aber viele Meilen beſchaͤftigte meine Phantaſie ein weinender Bettler, den ich am Wege hatte ſitzen ſehn und dem ich im ſchnellen Voruͤberfahren nichts hatte geben koͤnnen. Mit welchen Gefuͤhlen muß er den Frohſinn ſeiner gluͤcklichen Bruͤder angeſehn haben, da er gera- de ſein Elend ſo tief empfand! Mit welchem Herzen muß er dem ſchnellen rollenden Wagen nachgeſeufzt haben! — Dann ſo manche kleine Scenen der Feindſchaft und Verfolgung, einer klaͤglichen Eitelkeit, in der ſo viele Menſchen den kleinen Winkel, in dem ſie vegetiren, fuͤr den Mittelpunkt der Welt halten, — ach, hun- dert ſo unbedeutende Sachen, die den meiſten Reiſenden gar nicht in die Augen fallen, haben mir in ſehr vielen Stunden meine frohe Laune geraubt.
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habe ich manche Stunden zu danken, die zu den
ſchoͤnſten meines Lebens gehoͤren, — aber itzt ge-
winnen die traurigen Vorſtellungen zuweilen ſo
ſehr die Uebermacht in meiner Seele, daß ſich
ein duͤſtrer Flor uͤber alle andere Gegenſtaͤnde
verbreitet. Die Reiſe von Lyon durch Frank-
reich war die reizendſte, allenthalben frohe und
ſingende Winzer, die ihre Schaͤtze einſammel-
ten, — aber viele Meilen beſchaͤftigte meine
Phantaſie ein weinender Bettler, den ich am
Wege hatte ſitzen ſehn und dem ich im ſchnellen
Voruͤberfahren nichts hatte geben koͤnnen. Mit
welchen Gefuͤhlen muß er den Frohſinn ſeiner
gluͤcklichen Bruͤder angeſehn haben, da er gera-
de ſein Elend ſo tief empfand! Mit welchem
Herzen muß er dem ſchnellen rollenden Wagen
nachgeſeufzt haben! — Dann ſo manche kleine
Scenen der Feindſchaft und Verfolgung, einer
klaͤglichen Eitelkeit, in der ſo viele Menſchen
den kleinen Winkel, in dem ſie vegetiren, fuͤr
den Mittelpunkt der Welt halten, — ach, hun-
dert ſo unbedeutende Sachen, die den meiſten
Reiſenden gar nicht in die Augen fallen, haben
mir in ſehr vielen Stunden meine frohe Laune
geraubt.
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 238[236]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/246>, abgerufen am 22.11.2024.
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