Ich habe Dich nicht in London getroffen, ich schließe daraus, daß Du noch in Bonstreet bist.
Ich bin so schnell hiehergereist, als es nur möglich war, aber dennoch vergebens, -- er war schon todt, schon begraben als ich in das Haus trat. Ich habe nur sein Grab besuchen können. -- Bis itzt hat mich noch kein Vorfall in meinem Leben so tief geschmerzt, als daß ich dem guten Manne nicht seine letzte Freude, seine letzte Hofnung habe erfüllen können; er hat vielleicht in seinem Bette so oft nach mir ge- seufzt, so oft nach der Thüre gesehn, in die ich hereintreten sollte, und immer ist sein Erwarten umsonst gewesen. -- Karl, wir fühlen es nie so lebhaft, wie viel uns ein Mensch ist, als von dem Augenblicke seines Todes an. Wenn wir auch ein Wesen nicht ganz mit unsrer innigsten
N 2
1. Mortimer an Karl Wilmont.
London.
Ich habe Dich nicht in London getroffen, ich ſchließe daraus, daß Du noch in Bonſtreet biſt.
Ich bin ſo ſchnell hiehergereiſt, als es nur moͤglich war, aber dennoch vergebens, — er war ſchon todt, ſchon begraben als ich in das Haus trat. Ich habe nur ſein Grab beſuchen koͤnnen. — Bis itzt hat mich noch kein Vorfall in meinem Leben ſo tief geſchmerzt, als daß ich dem guten Manne nicht ſeine letzte Freude, ſeine letzte Hofnung habe erfuͤllen koͤnnen; er hat vielleicht in ſeinem Bette ſo oft nach mir ge- ſeufzt, ſo oft nach der Thuͤre geſehn, in die ich hereintreten ſollte, und immer iſt ſein Erwarten umſonſt geweſen. — Karl, wir fuͤhlen es nie ſo lebhaft, wie viel uns ein Menſch iſt, als von dem Augenblicke ſeines Todes an. Wenn wir auch ein Weſen nicht ganz mit unſrer innigſten
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[[193]/0203]
1.
Mortimer an Karl Wilmont.
London.
Ich habe Dich nicht in London getroffen, ich
ſchließe daraus, daß Du noch in Bonſtreet biſt.
Ich bin ſo ſchnell hiehergereiſt, als es nur
moͤglich war, aber dennoch vergebens, — er
war ſchon todt, ſchon begraben als ich in das
Haus trat. Ich habe nur ſein Grab beſuchen
koͤnnen. — Bis itzt hat mich noch kein Vorfall
in meinem Leben ſo tief geſchmerzt, als daß ich
dem guten Manne nicht ſeine letzte Freude, ſeine
letzte Hofnung habe erfuͤllen koͤnnen; er hat
vielleicht in ſeinem Bette ſo oft nach mir ge-
ſeufzt, ſo oft nach der Thuͤre geſehn, in die ich
hereintreten ſollte, und immer iſt ſein Erwarten
umſonſt geweſen. — Karl, wir fuͤhlen es nie ſo
lebhaft, wie viel uns ein Menſch iſt, als von
dem Augenblicke ſeines Todes an. Wenn wir
auch ein Weſen nicht ganz mit unſrer innigſten
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. [193]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/203>, abgerufen am 23.11.2024.
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