Ich bin die ganze Stadt durchsstrichen, ohne Dich zu finden, der Abend ist so göttlich, ich hätte Dir so gern alles gesagt, was ich auf dem Herzen habe; ich schreibe Dir daher, weil ich Dich doch wahrscheinlich heut nicht mehr sehn werde. Antworte mir noch heut, wenig- stens morgen früh, wenn Du mich nicht selbst besuchen solltest.
O Balder, könnte doch meine Seele ohne Worte zu der Deinigen reden, -- und so alles, alles Dir ganz glühend hingeben, was in mei- nem Busen brennt und mich mit Martern und Seeligkeiten quält.
Ja Freund, itzt fühl' ich es, wie sehr Rosa Recht behält, wenn er sagt: der Busen des füh- lenden Menschen hat für tausend Empfindun- gen Raum, warum will der Mensch seiner eige- nen Wonne zu enge Schranken setzen? Des Thoren, der da schwört, daß er nie wieder
lieben
16. William Lovell an Balder.
Paris.
Ich bin die ganze Stadt durchſstrichen, ohne Dich zu finden, der Abend iſt ſo goͤttlich, ich haͤtte Dir ſo gern alles geſagt, was ich auf dem Herzen habe; ich ſchreibe Dir daher, weil ich Dich doch wahrſcheinlich heut nicht mehr ſehn werde. Antworte mir noch heut, wenig- ſtens morgen fruͤh, wenn Du mich nicht ſelbſt beſuchen ſollteſt.
O Balder, koͤnnte doch meine Seele ohne Worte zu der Deinigen reden, — und ſo alles, alles Dir ganz gluͤhend hingeben, was in mei- nem Buſen brennt und mich mit Martern und Seeligkeiten quaͤlt.
Ja Freund, itzt fuͤhl’ ich es, wie ſehr Roſa Recht behaͤlt, wenn er ſagt: der Buſen des fuͤh- lenden Menſchen hat fuͤr tauſend Empfindun- gen Raum, warum will der Menſch ſeiner eige- nen Wonne zu enge Schranken ſetzen? Des Thoren, der da ſchwoͤrt, daß er nie wieder
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[144[142]/0152]
16.
William Lovell an Balder.
Paris.
Ich bin die ganze Stadt durchſstrichen, ohne
Dich zu finden, der Abend iſt ſo goͤttlich, ich
haͤtte Dir ſo gern alles geſagt, was ich auf
dem Herzen habe; ich ſchreibe Dir daher, weil
ich Dich doch wahrſcheinlich heut nicht mehr
ſehn werde. Antworte mir noch heut, wenig-
ſtens morgen fruͤh, wenn Du mich nicht ſelbſt
beſuchen ſollteſt.
O Balder, koͤnnte doch meine Seele ohne
Worte zu der Deinigen reden, — und ſo alles,
alles Dir ganz gluͤhend hingeben, was in mei-
nem Buſen brennt und mich mit Martern und
Seeligkeiten quaͤlt.
Ja Freund, itzt fuͤhl’ ich es, wie ſehr Roſa
Recht behaͤlt, wenn er ſagt: der Buſen des fuͤh-
lenden Menſchen hat fuͤr tauſend Empfindun-
gen Raum, warum will der Menſch ſeiner eige-
nen Wonne zu enge Schranken ſetzen? Des
Thoren, der da ſchwoͤrt, daß er nie wieder
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 144[142]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/152>, abgerufen am 24.11.2024.
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