O Amalie, dürft' ich mit diesem Briefe zu- gleich nach meinem Vaterlande eilen, in Ihre Arme fliegen, o könnt' ich Tage zurückzaubern und alle Seeligkeiten von der Vergangenheit wieder fodern! -- Ich sitze nun hier und wün- sche und sinne, und fühle so innig die Schmer- zen der Trennung, -- o wie dank' ich dir, glück- licher Genius, der du zuerst das Mittel erfan- dest, Gedanken und Gefühle einer todten Masse mitzutheilen und so bis in ferne Länder zu spre- chen, -- o Amalie! gewiß war es ein Lieben- der, ein Geliebter, der zuerst diese künstlichen Zeichen zusammensetzte und so die Trennung hin- terging. Aber doch, was kann ich Ihnen sa- gen? daß nur Sie mein Gedanke im Wachen, meine Traumgestalt im Schlafe sind? Daß sich meine Phantasie oft so sehr täuscht, daß ich Sie in fremden Gestalten wahrzunehmen glaube? daß ich zittre, wenn auch das fremdeste Wesen von ohngefähr den Nahmen: "Amalie",
6. William Lovell an Amalie Wilmont.
Paris.
O Amalie, duͤrft’ ich mit dieſem Briefe zu- gleich nach meinem Vaterlande eilen, in Ihre Arme fliegen, o koͤnnt’ ich Tage zuruͤckzaubern und alle Seeligkeiten von der Vergangenheit wieder fodern! — Ich ſitze nun hier und wuͤn- ſche und ſinne, und fuͤhle ſo innig die Schmer- zen der Trennung, — o wie dank’ ich dir, gluͤck- licher Genius, der du zuerſt das Mittel erfan- deſt, Gedanken und Gefuͤhle einer todten Maſſe mitzutheilen und ſo bis in ferne Laͤnder zu ſpre- chen, — o Amalie! gewiß war es ein Lieben- der, ein Geliebter, der zuerſt dieſe kuͤnſtlichen Zeichen zuſammenſetzte und ſo die Trennung hin- terging. Aber doch, was kann ich Ihnen ſa- gen? daß nur Sie mein Gedanke im Wachen, meine Traumgeſtalt im Schlafe ſind? Daß ſich meine Phantaſie oft ſo ſehr taͤuſcht, daß ich Sie in fremden Geſtalten wahrzunehmen glaube? daß ich zittre, wenn auch das fremdeſte Weſen von ohngefaͤhr den Nahmen: »Amalie»,
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[107[105]/0115]
6.
William Lovell an Amalie Wilmont.
Paris.
O Amalie, duͤrft’ ich mit dieſem Briefe zu-
gleich nach meinem Vaterlande eilen, in Ihre
Arme fliegen, o koͤnnt’ ich Tage zuruͤckzaubern
und alle Seeligkeiten von der Vergangenheit
wieder fodern! — Ich ſitze nun hier und wuͤn-
ſche und ſinne, und fuͤhle ſo innig die Schmer-
zen der Trennung, — o wie dank’ ich dir, gluͤck-
licher Genius, der du zuerſt das Mittel erfan-
deſt, Gedanken und Gefuͤhle einer todten Maſſe
mitzutheilen und ſo bis in ferne Laͤnder zu ſpre-
chen, — o Amalie! gewiß war es ein Lieben-
der, ein Geliebter, der zuerſt dieſe kuͤnſtlichen
Zeichen zuſammenſetzte und ſo die Trennung hin-
terging. Aber doch, was kann ich Ihnen ſa-
gen? daß nur Sie mein Gedanke im Wachen,
meine Traumgeſtalt im Schlafe ſind? Daß ſich
meine Phantaſie oft ſo ſehr taͤuſcht, daß ich
Sie in fremden Geſtalten wahrzunehmen glaube?
daß ich zittre, wenn auch das fremdeſte Weſen
von ohngefaͤhr den Nahmen: »Amalie»,
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 107[105]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/115>, abgerufen am 22.11.2024.
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