Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Thunberg, Carl Peter: Reisen durch einen Theil von Europa, Afrika und Asien [...] in den Jahren 1770 bis 1779. Bd. 1. Übers. v. Christian Heinrich Groskurd. Berlin, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite
Vierte Abtheilung. Aufenthalt zu Cap

Vor Zeiten war, Kolbe's Erzählung zufolge, bey
den Hottentotten das Castriren gebräuchlich. Gewöhn-
lich geschah diese Operation ums achte Jahr. Man nahm
den linken Hoden weg, theils damit der Castrirte keine
Zwillinge sollte zeugen, theils aber mit mehr Leichtigkeit
laufen können.

In Ansehung der Erbschaft ist das Recht der Erst-
geburt bey ihnen so sehr in Ausübung, daß der älteste
Sohn jedesmahl der einzige Erbe der ganzen väterlichen
Nachlassenschaft ist.

Bey großen Feyerlichkeiten machen sie von Gesang
und verschiednen musikalischen Instrumenten, wie auch
von ganz eignen und sehr sonderbaren Tänzen Gebrauch.

Unter denjenigen Hottentotten, welche noch ganz
in ihrer Wildheit leben, und mit den christlichen Einwoh-
nern gar keine Gemeinschaft haben, sind noch verschiedne
barbarische Sitten üblich. Alte und abgelebte Leute wer-
den lebendig begraben, oder auch wohl in eine Höhle oder
Kluft im Gebirge gebracht, wobey man ihnen auf einige
wenige Tage Essen und Trinken mitgiebt. Hier kommen
sie entweder in kurzer Zeit vor Hunger um, oder werden
ein Raub der wilden Thiere. -- Auch Kinder werden
aus mehr als Einer Ursache weggesetzt und ihrem Schick-
sale überlassen. Wenn eine Mutter im Wochenbette
oder kurz nachher stirbt, wird das Kind nebst der Mut-
ter begraben, weil niemand ist, der ihm weiter Nahrung
geben kann; denn von Ammen oder künstlichen Nahrungs-
mitteln kleiner Kinder haben sie keinen Begriff. Bringt
eine Mutter Zwillinge zur Welt, und glaubt sie nicht
beyde ernähren zu können, so wird eins weggeworfen.
Sind beyde Knaben, so behalten sie den besten, gesunde-
sten und stärksten; ist eins ein Mädchen, so trifft allezeit
dieses das Loos, weggeschafft zu werden. Auch verfah-

Vierte Abtheilung. Aufenthalt zu Cap

Vor Zeiten war, Kolbe’s Erzaͤhlung zufolge, bey
den Hottentotten das Caſtriren gebraͤuchlich. Gewoͤhn-
lich geſchah dieſe Operation ums achte Jahr. Man nahm
den linken Hoden weg, theils damit der Caſtrirte keine
Zwillinge ſollte zeugen, theils aber mit mehr Leichtigkeit
laufen koͤnnen.

In Anſehung der Erbſchaft iſt das Recht der Erſt-
geburt bey ihnen ſo ſehr in Ausuͤbung, daß der aͤlteſte
Sohn jedesmahl der einzige Erbe der ganzen vaͤterlichen
Nachlaſſenſchaft iſt.

Bey großen Feyerlichkeiten machen ſie von Geſang
und verſchiednen muſikaliſchen Inſtrumenten, wie auch
von ganz eignen und ſehr ſonderbaren Taͤnzen Gebrauch.

Unter denjenigen Hottentotten, welche noch ganz
in ihrer Wildheit leben, und mit den chriſtlichen Einwoh-
nern gar keine Gemeinſchaft haben, ſind noch verſchiedne
barbariſche Sitten uͤblich. Alte und abgelebte Leute wer-
den lebendig begraben, oder auch wohl in eine Hoͤhle oder
Kluft im Gebirge gebracht, wobey man ihnen auf einige
wenige Tage Eſſen und Trinken mitgiebt. Hier kommen
ſie entweder in kurzer Zeit vor Hunger um, oder werden
ein Raub der wilden Thiere. — Auch Kinder werden
aus mehr als Einer Urſache weggeſetzt und ihrem Schick-
ſale uͤberlaſſen. Wenn eine Mutter im Wochenbette
oder kurz nachher ſtirbt, wird das Kind nebſt der Mut-
ter begraben, weil niemand iſt, der ihm weiter Nahrung
geben kann; denn von Ammen oder kuͤnſtlichen Nahrungs-
mitteln kleiner Kinder haben ſie keinen Begriff. Bringt
eine Mutter Zwillinge zur Welt, und glaubt ſie nicht
beyde ernaͤhren zu koͤnnen, ſo wird eins weggeworfen.
Sind beyde Knaben, ſo behalten ſie den beſten, geſunde-
ſten und ſtaͤrkſten; iſt eins ein Maͤdchen, ſo trifft allezeit
dieſes das Loos, weggeſchafft zu werden. Auch verfah-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <pb facs="#f0510" n="172"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Vierte Abtheilung. Aufenthalt zu <placeName>Cap</placeName></hi> </fw><lb/>
        <p>Vor Zeiten war, <persName>Kolbe&#x2019;s</persName> Erza&#x0364;hlung zufolge, bey<lb/>
den Hottentotten das Ca&#x017F;triren gebra&#x0364;uchlich. Gewo&#x0364;hn-<lb/>
lich ge&#x017F;chah die&#x017F;e Operation ums achte Jahr. Man nahm<lb/>
den linken Hoden weg, theils damit der Ca&#x017F;trirte keine<lb/>
Zwillinge &#x017F;ollte zeugen, theils aber mit mehr Leichtigkeit<lb/>
laufen ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
        <p>In An&#x017F;ehung der Erb&#x017F;chaft i&#x017F;t das Recht der Er&#x017F;t-<lb/>
geburt bey ihnen &#x017F;o &#x017F;ehr in Ausu&#x0364;bung, daß der a&#x0364;lte&#x017F;te<lb/>
Sohn jedesmahl der einzige Erbe der ganzen va&#x0364;terlichen<lb/>
Nachla&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft i&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>Bey großen Feyerlichkeiten machen &#x017F;ie von Ge&#x017F;ang<lb/>
und ver&#x017F;chiednen mu&#x017F;ikali&#x017F;chen In&#x017F;trumenten, wie auch<lb/>
von ganz eignen und &#x017F;ehr &#x017F;onderbaren Ta&#x0364;nzen Gebrauch.</p><lb/>
        <p>Unter denjenigen Hottentotten, welche noch ganz<lb/>
in ihrer Wildheit leben, und mit den chri&#x017F;tlichen Einwoh-<lb/>
nern gar keine Gemein&#x017F;chaft haben, &#x017F;ind noch ver&#x017F;chiedne<lb/>
barbari&#x017F;che Sitten u&#x0364;blich. Alte und abgelebte Leute wer-<lb/>
den lebendig begraben, oder auch wohl in eine Ho&#x0364;hle oder<lb/>
Kluft im Gebirge gebracht, wobey man ihnen auf einige<lb/>
wenige Tage E&#x017F;&#x017F;en und Trinken mitgiebt. Hier kommen<lb/>
&#x017F;ie entweder in kurzer Zeit vor Hunger um, oder werden<lb/>
ein Raub der wilden Thiere. &#x2014; Auch Kinder werden<lb/>
aus mehr als Einer Ur&#x017F;ache wegge&#x017F;etzt und ihrem Schick-<lb/>
&#x017F;ale u&#x0364;berla&#x017F;&#x017F;en. Wenn eine Mutter im Wochenbette<lb/>
oder kurz nachher &#x017F;tirbt, wird das Kind neb&#x017F;t der Mut-<lb/>
ter begraben, weil niemand i&#x017F;t, der ihm weiter Nahrung<lb/>
geben kann; denn von Ammen oder ku&#x0364;n&#x017F;tlichen Nahrungs-<lb/>
mitteln kleiner Kinder haben &#x017F;ie keinen Begriff. Bringt<lb/>
eine Mutter Zwillinge zur Welt, und glaubt &#x017F;ie nicht<lb/>
beyde erna&#x0364;hren zu ko&#x0364;nnen, &#x017F;o wird eins weggeworfen.<lb/>
Sind beyde Knaben, &#x017F;o behalten &#x017F;ie den be&#x017F;ten, ge&#x017F;unde-<lb/>
&#x017F;ten und &#x017F;ta&#x0364;rk&#x017F;ten; i&#x017F;t eins ein Ma&#x0364;dchen, &#x017F;o trifft allezeit<lb/>
die&#x017F;es das Loos, wegge&#x017F;chafft zu werden. Auch verfah-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[172/0510] Vierte Abtheilung. Aufenthalt zu Cap Vor Zeiten war, Kolbe’s Erzaͤhlung zufolge, bey den Hottentotten das Caſtriren gebraͤuchlich. Gewoͤhn- lich geſchah dieſe Operation ums achte Jahr. Man nahm den linken Hoden weg, theils damit der Caſtrirte keine Zwillinge ſollte zeugen, theils aber mit mehr Leichtigkeit laufen koͤnnen. In Anſehung der Erbſchaft iſt das Recht der Erſt- geburt bey ihnen ſo ſehr in Ausuͤbung, daß der aͤlteſte Sohn jedesmahl der einzige Erbe der ganzen vaͤterlichen Nachlaſſenſchaft iſt. Bey großen Feyerlichkeiten machen ſie von Geſang und verſchiednen muſikaliſchen Inſtrumenten, wie auch von ganz eignen und ſehr ſonderbaren Taͤnzen Gebrauch. Unter denjenigen Hottentotten, welche noch ganz in ihrer Wildheit leben, und mit den chriſtlichen Einwoh- nern gar keine Gemeinſchaft haben, ſind noch verſchiedne barbariſche Sitten uͤblich. Alte und abgelebte Leute wer- den lebendig begraben, oder auch wohl in eine Hoͤhle oder Kluft im Gebirge gebracht, wobey man ihnen auf einige wenige Tage Eſſen und Trinken mitgiebt. Hier kommen ſie entweder in kurzer Zeit vor Hunger um, oder werden ein Raub der wilden Thiere. — Auch Kinder werden aus mehr als Einer Urſache weggeſetzt und ihrem Schick- ſale uͤberlaſſen. Wenn eine Mutter im Wochenbette oder kurz nachher ſtirbt, wird das Kind nebſt der Mut- ter begraben, weil niemand iſt, der ihm weiter Nahrung geben kann; denn von Ammen oder kuͤnſtlichen Nahrungs- mitteln kleiner Kinder haben ſie keinen Begriff. Bringt eine Mutter Zwillinge zur Welt, und glaubt ſie nicht beyde ernaͤhren zu koͤnnen, ſo wird eins weggeworfen. Sind beyde Knaben, ſo behalten ſie den beſten, geſunde- ſten und ſtaͤrkſten; iſt eins ein Maͤdchen, ſo trifft allezeit dieſes das Loos, weggeſchafft zu werden. Auch verfah-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/thunberg_reisen01_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/thunberg_reisen01_1792/510
Zitationshilfe: Thunberg, Carl Peter: Reisen durch einen Theil von Europa, Afrika und Asien [...] in den Jahren 1770 bis 1779. Bd. 1. Übers. v. Christian Heinrich Groskurd. Berlin, 1792, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thunberg_reisen01_1792/510>, abgerufen am 25.11.2024.