Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692.

Bild:
<< vorherige Seite

Das 6. Hauptst. von der absonderlichen
tugendliebender Mann/ ob er schon nicht die
bey einem andern sich besindende Tugend also
bald auff das deutlichste erkennet/ so muthmas-
set er
doch dieselbe bald/ wenn er nichts lasterhaf-
tes an demselben spüret/ und diese Muthmassung
ist nichts anders als ein Estim oder Hochachtung
Krafft welcher ein tugendlibender Mensch
einen andern nach seinen äusserlichen Thun
und Lassen so lange für tugendliebend hält/
biß er das Gegentheil gewahr wird.

29.

Dieser Estim und Hochachtung ist ein
höchst nöthiger Grund aller irraisonablen
Liebe/
indem es unmöglich seyn kan/ daß die Be-
gierde der Vereinigung vernünfftig sey/ wenn
nicht die Einbildung vorhergegangen/ daß die ge-
liebte Person der Tugend ergeben sey.

30.

Es wird aber diese Einbildung eine Hoch-
achtung
genennet/ in ansehen der lasterhaff-
ten/
nicht aber in Ansehen tugendliebender Per-
sonen von geringern
Grad. Derowegen so
achtet nicht alleine ein Anfänger einen weisen
Mann
hoch/ sondern es tragen auch in dieser Be-
deutung zwey Leute von gleichen Fortgang
eine Hochachtung gegen einander/ und ein wei-
ser Mann
achtet einen Tugend-Schüler hoch/
weil er die Beschaffenheit/ daß er sich von andern
absondert/ und sich aus der Bestialität heraus reis-
sen wil/ bey ihm für was ungemeines halten muß.

31.

Aus dieser Hochachtung flieffet die ge-
fällige Sorgfältigkeit/
welches eine Tugend

ist/

Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
tugendliebender Mann/ ob er ſchon nicht die
bey einem andern ſich beſindende Tugend alſo
bald auff das deutlichſte erkennet/ ſo muthmaſ-
ſet er
doch dieſelbe bald/ wenn er nichts laſterhaf-
tes an demſelben ſpuͤret/ und dieſe Muthmaſſung
iſt nichts andeꝛs als ein Eſtim odeꝛ Hochachtung
Krafft welcher ein tugendlibender Menſch
einen andern nach ſeinen aͤuſſerlichen Thun
und Laſſen ſo lange fuͤr tugendliebend haͤlt/
biß er das Gegentheil gewahr wird.

29.

Dieſer Eſtim und Hochachtung iſt ein
hoͤchſt noͤthiger Grund aller irraiſonablen
Liebe/
indem es unmoͤglich ſeyn kan/ daß die Be-
gierde der Vereinigung vernuͤnfftig ſey/ wenn
nicht die Einbildung vorhergegangen/ daß die ge-
liebte Perſon der Tugend ergeben ſey.

30.

Es wird aber dieſe Einbildung eine Hoch-
achtung
genennet/ in anſehen der laſterhaff-
ten/
nicht aber in Anſehen tugendliebender Per-
ſonen von geringern
Grad. Derowegen ſo
achtet nicht alleine ein Anfaͤnger einen weiſen
Mann
hoch/ ſondern es tragen auch in dieſer Be-
deutung zwey Leute von gleichen Fortgang
eine Hochachtung gegen einander/ und ein wei-
ſer Mann
achtet einen Tugend-Schuͤler hoch/
weil er die Beſchaffenheit/ daß er ſich von andern
abſondert/ und ſich aus der Beſtialitaͤt heraus reiſ-
ſen wil/ bey ihm fuͤr was ungemeines halten muß.

31.

Aus dieſer Hochachtung flieffet die ge-
faͤllige Sorgfaͤltigkeit/
welches eine Tugend

iſt/
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0300" n="272[268]"/><fw place="top" type="header">Das 6. Haupt&#x017F;t. von der ab&#x017F;onderlichen</fw><lb/><hi rendition="#fr">tugendliebender Mann/</hi> ob er &#x017F;chon nicht die<lb/>
bey einem andern &#x017F;ich be&#x017F;indende Tugend al&#x017F;o<lb/>
bald auff das deutlich&#x017F;te erkennet/ &#x017F;o <hi rendition="#fr">muthma&#x017F;-<lb/>
&#x017F;et er</hi> doch die&#x017F;elbe bald/ wenn er nichts la&#x017F;terhaf-<lb/>
tes an dem&#x017F;elben &#x017F;pu&#x0364;ret/ und die&#x017F;e Muthma&#x017F;&#x017F;ung<lb/>
i&#x017F;t nichts ande&#xA75B;s als ein <hi rendition="#aq">E&#x017F;tim</hi> ode&#xA75B; <hi rendition="#fr">Hochachtung<lb/>
Krafft welcher ein tugendlibender Men&#x017F;ch<lb/>
einen andern nach &#x017F;einen a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;erlichen Thun<lb/>
und La&#x017F;&#x017F;en &#x017F;o lange fu&#x0364;r tugendliebend ha&#x0364;lt/<lb/>
biß er das Gegentheil gewahr wird.</hi></p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>29.</head>
            <p>Die&#x017F;er <hi rendition="#aq">E&#x017F;tim</hi> und Hochachtung i&#x017F;t ein<lb/><hi rendition="#fr">ho&#x0364;ch&#x017F;t no&#x0364;thiger Grund aller</hi> <hi rendition="#aq">irrai&#x017F;onab</hi><hi rendition="#fr">len<lb/>
Liebe/</hi> indem es unmo&#x0364;glich &#x017F;eyn kan/ daß die Be-<lb/>
gierde der Vereinigung vernu&#x0364;nfftig &#x017F;ey/ wenn<lb/>
nicht die Einbildung vorhergegangen/ daß die ge-<lb/>
liebte Per&#x017F;on der Tugend ergeben &#x017F;ey.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>30.</head>
            <p>Es wird aber die&#x017F;e Einbildung eine <hi rendition="#fr">Hoch-<lb/>
achtung</hi> genennet/ in an&#x017F;ehen <hi rendition="#fr">der la&#x017F;terhaff-<lb/>
ten/</hi> nicht aber in An&#x017F;ehen <hi rendition="#fr">tugendliebender Per-<lb/>
&#x017F;onen von geringern</hi> <hi rendition="#aq">Grad.</hi> Derowegen &#x017F;o<lb/>
achtet nicht alleine ein <hi rendition="#fr">Anfa&#x0364;nger</hi> einen <hi rendition="#fr">wei&#x017F;en<lb/>
Mann</hi> hoch/ &#x017F;ondern es tragen auch in die&#x017F;er Be-<lb/>
deutung <hi rendition="#fr">zwey Leute von gleichen Fortgang</hi><lb/>
eine Hochachtung gegen einander/ und ein <hi rendition="#fr">wei-<lb/>
&#x017F;er Mann</hi> achtet einen <hi rendition="#fr">Tugend-Schu&#x0364;ler</hi> hoch/<lb/>
weil er die Be&#x017F;chaffenheit/ daß er &#x017F;ich von andern<lb/>
ab&#x017F;ondert/ und &#x017F;ich aus der <hi rendition="#aq">Be&#x017F;tiali</hi>ta&#x0364;t heraus rei&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en wil/ bey ihm fu&#x0364;r was ungemeines halten muß.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>31.</head>
            <p>Aus die&#x017F;er Hochachtung flieffet die <hi rendition="#fr">ge-<lb/>
fa&#x0364;llige Sorgfa&#x0364;ltigkeit/</hi> welches eine Tugend<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">i&#x017F;t/</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[272[268]/0300] Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen tugendliebender Mann/ ob er ſchon nicht die bey einem andern ſich beſindende Tugend alſo bald auff das deutlichſte erkennet/ ſo muthmaſ- ſet er doch dieſelbe bald/ wenn er nichts laſterhaf- tes an demſelben ſpuͤret/ und dieſe Muthmaſſung iſt nichts andeꝛs als ein Eſtim odeꝛ Hochachtung Krafft welcher ein tugendlibender Menſch einen andern nach ſeinen aͤuſſerlichen Thun und Laſſen ſo lange fuͤr tugendliebend haͤlt/ biß er das Gegentheil gewahr wird. 29. Dieſer Eſtim und Hochachtung iſt ein hoͤchſt noͤthiger Grund aller irraiſonablen Liebe/ indem es unmoͤglich ſeyn kan/ daß die Be- gierde der Vereinigung vernuͤnfftig ſey/ wenn nicht die Einbildung vorhergegangen/ daß die ge- liebte Perſon der Tugend ergeben ſey. 30. Es wird aber dieſe Einbildung eine Hoch- achtung genennet/ in anſehen der laſterhaff- ten/ nicht aber in Anſehen tugendliebender Per- ſonen von geringern Grad. Derowegen ſo achtet nicht alleine ein Anfaͤnger einen weiſen Mann hoch/ ſondern es tragen auch in dieſer Be- deutung zwey Leute von gleichen Fortgang eine Hochachtung gegen einander/ und ein wei- ſer Mann achtet einen Tugend-Schuͤler hoch/ weil er die Beſchaffenheit/ daß er ſich von andern abſondert/ und ſich aus der Beſtialitaͤt heraus reiſ- ſen wil/ bey ihm fuͤr was ungemeines halten muß. 31. Aus dieſer Hochachtung flieffet die ge- faͤllige Sorgfaͤltigkeit/ welches eine Tugend iſt/

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_einleitungsittenlehre_1692
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_einleitungsittenlehre_1692/300
Zitationshilfe: Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692, S. 272[268]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_einleitungsittenlehre_1692/300>, abgerufen am 22.11.2024.