Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692.

Bild:
<< vorherige Seite

Das 5. Hauptst. von der allgemeinen
dult unsere Liebe anfangen zu bezeigen/ oder ihm
durch dieselbe als durch eine der ungemeinesten
Proben unsere Beständigkeit in der Liebe ver-
sichern.

66.

Zu dem folget es nicht/ dieser oder je-
ner hat sich meiner Liebe unwürdig gemacht/
deshalben bin ich ihn zu lieben nicht verbun-
den.
Jch laß es seyn/ daß man diesen Satz in
der absonderlichen Liebe auff gewisse Maaße
brauchen könne/ wiewohl auch disfalls noch viel
würde zu bedencken seyn. Aber in der allge-
meinen
Liebe wird er nicht gelten können. Denn
bey dieser können wir wohl das jenige/ was wir
einen Menschen in Ansehen seiner selbst nicht
schuldig seyn/ uns ihm zu leisten verpflichtet er-
kennen/ in Ansehen unserer Schuldigkeit ge-
gen das gantze menschliche Geschlecht
dessen
Mitglied er ist/ oder in Ansehen unserer selbst/
weil wir sonsten/ wenn wir ihm dasjenige thä-
ten/ was er wohl verdienet hätte/ unsere Ge-
müths-Ruhe mehr stören als befördern/ und al-
so uns selbsten an unserer grösten Glückseligkeit
hinderlich seyn würden.

67.

So wil es demnach nöhtig seyn zu erwei-
sen/ daß die allgemeine Gleichheit des mensch-
lichen Geschlechts diese Gedult von uns erforde-
re/ und daß wir ohne dieselbe unsere Gemüths-
Ruhe
nicht erhalten können.

68.

Jenes ist gantz leichte/ indem uns unser
eigen Gewissen sagen wird/ daß wir täglich/

wenn

Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen
dult unſere Liebe anfangen zu bezeigen/ oder ihm
durch dieſelbe als durch eine der ungemeineſten
Proben unſere Beſtaͤndigkeit in der Liebe ver-
ſichern.

66.

Zu dem folget es nicht/ dieſer oder je-
ner hat ſich meiner Liebe unwuͤrdig gemacht/
deshalben bin ich ihn zu lieben nicht verbun-
den.
Jch laß es ſeyn/ daß man dieſen Satz in
der abſonderlichen Liebe auff gewiſſe Maaße
brauchen koͤnne/ wiewohl auch disfalls noch viel
wuͤrde zu bedencken ſeyn. Aber in der allge-
meinen
Liebe wird er nicht gelten koͤnnen. Denn
bey dieſer koͤnnen wir wohl das jenige/ was wir
einen Menſchen in Anſehen ſeiner ſelbſt nicht
ſchuldig ſeyn/ uns ihm zu leiſten verpflichtet er-
kennen/ in Anſehen unſerer Schuldigkeit ge-
gen das gantze menſchliche Geſchlecht
deſſen
Mitglied er iſt/ oder in Anſehen unſerer ſelbſt/
weil wir ſonſten/ wenn wir ihm dasjenige thaͤ-
ten/ was er wohl verdienet haͤtte/ unſere Ge-
muͤths-Ruhe mehr ſtoͤren als befoͤrdern/ und al-
ſo uns ſelbſten an unſerer groͤſten Gluͤckſeligkeit
hinderlich ſeyn wuͤrden.

67.

So wil es demnach noͤhtig ſeyn zu erwei-
ſen/ daß die allgemeine Gleichheit des menſch-
lichen Geſchlechts dieſe Gedult von uns erforde-
re/ und daß wir ohne dieſelbe unſere Gemuͤths-
Ruhe
nicht erhalten koͤnnen.

68.

Jenes iſt gantz leichte/ indem uns unſer
eigen Gewiſſen ſagen wird/ daß wir taͤglich/

wenn
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0262" n="234[230]"/><fw place="top" type="header">Das 5. Haupt&#x017F;t. von der allgemeinen</fw><lb/>
dult un&#x017F;ere Liebe anfangen zu bezeigen/ oder ihm<lb/>
durch die&#x017F;elbe als durch eine der ungemeine&#x017F;ten<lb/>
Proben un&#x017F;ere Be&#x017F;ta&#x0364;ndigkeit in der Liebe ver-<lb/>
&#x017F;ichern.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>66.</head>
            <p>Zu dem folget es nicht/ die&#x017F;er oder je-<lb/>
ner hat &#x017F;ich meiner Liebe <hi rendition="#fr">unwu&#x0364;rdig</hi> gemacht/<lb/>
deshalben bin ich ihn zu lieben <hi rendition="#fr">nicht verbun-<lb/>
den.</hi> Jch laß es &#x017F;eyn/ daß man die&#x017F;en Satz in<lb/><hi rendition="#fr">der ab&#x017F;onderlichen</hi> Liebe auff gewi&#x017F;&#x017F;e Maaße<lb/>
brauchen ko&#x0364;nne/ wiewohl auch disfalls noch viel<lb/>
wu&#x0364;rde zu bedencken &#x017F;eyn. Aber in <hi rendition="#fr">der allge-<lb/>
meinen</hi> Liebe wird er nicht gelten ko&#x0364;nnen. Denn<lb/>
bey die&#x017F;er ko&#x0364;nnen wir wohl das jenige/ was wir<lb/>
einen Men&#x017F;chen in An&#x017F;ehen <hi rendition="#fr">&#x017F;einer &#x017F;elb&#x017F;t</hi> nicht<lb/>
&#x017F;chuldig &#x017F;eyn/ uns ihm zu lei&#x017F;ten verpflichtet er-<lb/>
kennen/ in An&#x017F;ehen un&#x017F;erer Schuldigkeit <hi rendition="#fr">ge-<lb/>
gen das gantze men&#x017F;chliche Ge&#x017F;chlecht</hi> de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Mitglied er i&#x017F;t/ oder in An&#x017F;ehen <hi rendition="#fr">un&#x017F;erer &#x017F;elb&#x017F;t/</hi><lb/>
weil wir &#x017F;on&#x017F;ten/ wenn wir ihm dasjenige tha&#x0364;-<lb/>
ten/ was er wohl verdienet ha&#x0364;tte/ un&#x017F;ere Ge-<lb/>
mu&#x0364;ths-Ruhe mehr &#x017F;to&#x0364;ren als befo&#x0364;rdern/ und al-<lb/>
&#x017F;o uns &#x017F;elb&#x017F;ten an un&#x017F;erer gro&#x0364;&#x017F;ten Glu&#x0364;ck&#x017F;eligkeit<lb/>
hinderlich &#x017F;eyn wu&#x0364;rden.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>67.</head>
            <p>So wil es demnach no&#x0364;htig &#x017F;eyn zu erwei-<lb/>
&#x017F;en/ daß die <hi rendition="#fr">allgemeine Gleichheit</hi> des men&#x017F;ch-<lb/>
lichen Ge&#x017F;chlechts die&#x017F;e Gedult von uns erforde-<lb/>
re/ und daß wir ohne die&#x017F;elbe <hi rendition="#fr">un&#x017F;ere Gemu&#x0364;ths-<lb/>
Ruhe</hi> nicht erhalten ko&#x0364;nnen.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>68.</head>
            <p><hi rendition="#fr">Jenes</hi> i&#x017F;t gantz leichte/ indem uns un&#x017F;er<lb/>
eigen Gewi&#x017F;&#x017F;en &#x017F;agen wird/ daß wir ta&#x0364;glich/<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wenn</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[234[230]/0262] Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen dult unſere Liebe anfangen zu bezeigen/ oder ihm durch dieſelbe als durch eine der ungemeineſten Proben unſere Beſtaͤndigkeit in der Liebe ver- ſichern. 66. Zu dem folget es nicht/ dieſer oder je- ner hat ſich meiner Liebe unwuͤrdig gemacht/ deshalben bin ich ihn zu lieben nicht verbun- den. Jch laß es ſeyn/ daß man dieſen Satz in der abſonderlichen Liebe auff gewiſſe Maaße brauchen koͤnne/ wiewohl auch disfalls noch viel wuͤrde zu bedencken ſeyn. Aber in der allge- meinen Liebe wird er nicht gelten koͤnnen. Denn bey dieſer koͤnnen wir wohl das jenige/ was wir einen Menſchen in Anſehen ſeiner ſelbſt nicht ſchuldig ſeyn/ uns ihm zu leiſten verpflichtet er- kennen/ in Anſehen unſerer Schuldigkeit ge- gen das gantze menſchliche Geſchlecht deſſen Mitglied er iſt/ oder in Anſehen unſerer ſelbſt/ weil wir ſonſten/ wenn wir ihm dasjenige thaͤ- ten/ was er wohl verdienet haͤtte/ unſere Ge- muͤths-Ruhe mehr ſtoͤren als befoͤrdern/ und al- ſo uns ſelbſten an unſerer groͤſten Gluͤckſeligkeit hinderlich ſeyn wuͤrden. 67. So wil es demnach noͤhtig ſeyn zu erwei- ſen/ daß die allgemeine Gleichheit des menſch- lichen Geſchlechts dieſe Gedult von uns erforde- re/ und daß wir ohne dieſelbe unſere Gemuͤths- Ruhe nicht erhalten koͤnnen. 68. Jenes iſt gantz leichte/ indem uns unſer eigen Gewiſſen ſagen wird/ daß wir taͤglich/ wenn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_einleitungsittenlehre_1692
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_einleitungsittenlehre_1692/262
Zitationshilfe: Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692, S. 234[230]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_einleitungsittenlehre_1692/262>, abgerufen am 21.11.2024.