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Thomasius, Christian: Ausübung Der SittenLehre. Halle (Saale), 1696.

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der drey Haupt-Laster.
tugendhaffter Mensch in der Welt sey/ wel-
ches eine gar zu derbe Injurie wider das gantze
Menschliche Geschlecht zu seyn scheinet/ da doch
alle Historien voller Exempel tugendhaffter/ tapf-
ferer/ mäßiger/ keuscher/ sanfftmüthiger/ gerecht-
liebender/ freygebiger u. s. w. Leute sind. Aber
hierauf ist leichte zu antworten: Das ist keine In-
jurie,
wenn man sagt/ daß ein Mensch mit an-
dern Menschen einerley Beschaffenheit habe/ son-
dern wenn ein Mensch für den andern einen Vorzug
haben wil/ und deßhalben den andern verachtet.
Es ist nur eine/ nicht viel Tugenden/ sie heisse nun
vernünfftige Liebe aller Menschen/ oder Bezäu-
mung seiner affecten u. s. w. Diese bekömmt nur
in Ansehen ihres unterschiedenen äusserlichen
Thun und Lassens unterschiedene Namen/ wie
die einige Majestät in Betrachtung der vielfälti-
gen Regalien. Wären die Menschen wahrhaff-
tig tugendhafft/ so besässen sie alle Tugenden/
und bedürfften nicht/ daß man sie von einer be-
nennete/ und weil sie nur von einer benennet wer-
den/ sind sie eben verdächtig/ daß sie die andern
nicht besitzen. Der Tapffere ist z. e. nicht mäs-
sig/ der Mäßige nicht keusch/ der Keusche nicht
sanfftmüthig/ der Sanfftmüthige nicht gerecht/
der Gerechte nicht freygebig/ der Freygebige nicht
tapffer/ u. s. w. Also folget nothwendig/ daß diese
Titel nur von Schein-Tugenden hergenommen
sind/ z. e. daß der grausame und verwegene Tapf-
fer/ der Geitzige und Schindhündische mäßig
und keusch/ der Verzagte sanfftmüthig/ der Ehr-

geitzig-

der drey Haupt-Laſter.
tugendhaffter Menſch in der Welt ſey/ wel-
ches eine gar zu derbe Injurie wider das gantze
Menſchliche Geſchlecht zu ſeyn ſcheinet/ da doch
alle Hiſtorien voller Exempel tugendhaffter/ tapf-
ferer/ maͤßiger/ keuſcher/ ſanfftmuͤthiger/ gerecht-
liebender/ freygebiger u. ſ. w. Leute ſind. Aber
hierauf iſt leichte zu antworten: Das iſt keine In-
jurie,
wenn man ſagt/ daß ein Menſch mit an-
dern Menſchen einerley Beſchaffenheit habe/ ſon-
deꝛn weñ ein Menſch fuͤꝛ den andern einen Vorzug
haben wil/ und deßhalben den andern verachtet.
Es iſt nur eine/ nicht viel Tugenden/ ſie heiſſe nun
vernuͤnfftige Liebe aller Menſchen/ oder Bezaͤu-
mung ſeiner affecten u. ſ. w. Dieſe bekoͤmmt nur
in Anſehen ihres unterſchiedenen aͤuſſerlichen
Thun und Laſſens unterſchiedene Namen/ wie
die einige Majeſtaͤt in Betrachtung der vielfaͤlti-
gen Regalien. Waͤren die Menſchen wahrhaff-
tig tugendhafft/ ſo beſaͤſſen ſie alle Tugenden/
und beduͤrfften nicht/ daß man ſie von einer be-
nennete/ und weil ſie nur von einer benennet wer-
den/ ſind ſie eben verdaͤchtig/ daß ſie die andern
nicht beſitzen. Der Tapffere iſt z. e. nicht maͤſ-
ſig/ der Maͤßige nicht keuſch/ der Keuſche nicht
ſanfftmuͤthig/ der Sanfftmuͤthige nicht gerecht/
der Gerechte nicht freygebig/ der Freygebige nicht
tapffer/ u. ſ. w. Alſo folget nothwendig/ daß dieſe
Titel nur von Schein-Tugenden hergenommen
ſind/ z. e. daß der grauſame und verwegene Tapf-
fer/ der Geitzige und Schindhuͤndiſche maͤßig
und keuſch/ der Verzagte ſanfftmuͤthig/ der Ehr-

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[351/0363] der drey Haupt-Laſter. tugendhaffter Menſch in der Welt ſey/ wel- ches eine gar zu derbe Injurie wider das gantze Menſchliche Geſchlecht zu ſeyn ſcheinet/ da doch alle Hiſtorien voller Exempel tugendhaffter/ tapf- ferer/ maͤßiger/ keuſcher/ ſanfftmuͤthiger/ gerecht- liebender/ freygebiger u. ſ. w. Leute ſind. Aber hierauf iſt leichte zu antworten: Das iſt keine In- jurie, wenn man ſagt/ daß ein Menſch mit an- dern Menſchen einerley Beſchaffenheit habe/ ſon- deꝛn weñ ein Menſch fuͤꝛ den andern einen Vorzug haben wil/ und deßhalben den andern verachtet. Es iſt nur eine/ nicht viel Tugenden/ ſie heiſſe nun vernuͤnfftige Liebe aller Menſchen/ oder Bezaͤu- mung ſeiner affecten u. ſ. w. Dieſe bekoͤmmt nur in Anſehen ihres unterſchiedenen aͤuſſerlichen Thun und Laſſens unterſchiedene Namen/ wie die einige Majeſtaͤt in Betrachtung der vielfaͤlti- gen Regalien. Waͤren die Menſchen wahrhaff- tig tugendhafft/ ſo beſaͤſſen ſie alle Tugenden/ und beduͤrfften nicht/ daß man ſie von einer be- nennete/ und weil ſie nur von einer benennet wer- den/ ſind ſie eben verdaͤchtig/ daß ſie die andern nicht beſitzen. Der Tapffere iſt z. e. nicht maͤſ- ſig/ der Maͤßige nicht keuſch/ der Keuſche nicht ſanfftmuͤthig/ der Sanfftmuͤthige nicht gerecht/ der Gerechte nicht freygebig/ der Freygebige nicht tapffer/ u. ſ. w. Alſo folget nothwendig/ daß dieſe Titel nur von Schein-Tugenden hergenommen ſind/ z. e. daß der grauſame und verwegene Tapf- fer/ der Geitzige und Schindhuͤndiſche maͤßig und keuſch/ der Verzagte ſanfftmuͤthig/ der Ehr- geitzig-

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Zitationshilfe: Thomasius, Christian: Ausübung Der SittenLehre. Halle (Saale), 1696, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_ausuebungsittenlehre_1696/363>, abgerufen am 24.11.2024.