Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Thomasius, Christian: Ausübung Der SittenLehre. Halle (Saale), 1696.

Bild:
<< vorherige Seite

Das 4. H. wie vielerley die Gem. N.
ich das raisonnement des Cartesii gerade umb-
kehre. Eben deswegen/ weil wir uns über etwas
verwundern ohne Ansehen/ ob es gut sey oder
nicht/ so ist zwar die Verwunderung eine Lei-
denschafft des Verstandes/
die zuweilen vor
denen Leidenschafften des Willens und vor der
Liebe vorgehet/ aber sie ist niemahls eine Ge-
müths-Leidenschafft.

30. Und ob wol hiernechst nicht zu läugnen
ist/ daß die Verwunderung der Seelen sich also-
bald bey denen kleinsten Kindern hervor thut/ in-
dem sie bald nach der Geburt die Geschöpffe/
oder vielmehr das Licht gleichsam erstaunend an-
sehen/ und disfalls einem Trunckenen gleichen/
der aus dem ersten Schlaff erwachet; bey dieser
Bewandniß aber die Verwunderung die al-
lererste Leidenschafft
wo nicht des Gemüths/
doch der Menschlichen Seelen zu seyn scheinet;
So ist doch ausgemacht/ daß wenn wir die Na-
tur des Menschen ein wenig genauer betrach-
ten wollen/ die Gemüths-Neigungen sich
eher als die Verwunderung blicken lassen/ indem
entweder der Mangel der Nahrung/ oder die
Empfindung wegen Veränderung der Lufft/ oder
der Schmertz wegen der Geburt denen Kindern
Zeichen eines Verlangens auspreßet.

31. So ist auch Cartesius darinnen irrig/
wenn er saget/ daß die Bewunderung/ (so fer-
ne nemlich dieselbige vor der Liebe eines Dinges

vorher

Das 4. H. wie vielerley die Gem. N.
ich das raiſonnement des Carteſii gerade umb-
kehre. Eben deswegen/ weil wir uns uͤber etwas
verwundern ohne Anſehen/ ob es gut ſey oder
nicht/ ſo iſt zwar die Verwunderung eine Lei-
denſchafft des Verſtandes/
die zuweilen vor
denen Leidenſchafften des Willens und vor der
Liebe vorgehet/ aber ſie iſt niemahls eine Ge-
muͤths-Leidenſchafft.

30. Und ob wol hiernechſt nicht zu laͤugnen
iſt/ daß die Verwunderung der Seelen ſich alſo-
bald bey denen kleinſten Kindern hervor thut/ in-
dem ſie bald nach der Geburt die Geſchoͤpffe/
oder vielmehr das Licht gleichſam erſtaunend an-
ſehen/ und disfalls einem Trunckenen gleichen/
der aus dem erſten Schlaff erwachet; bey dieſer
Bewandniß aber die Verwunderung die al-
lererſte Leidenſchafft
wo nicht des Gemuͤths/
doch der Menſchlichen Seelen zu ſeyn ſcheinet;
So iſt doch ausgemacht/ daß wenn wir die Na-
tur des Menſchen ein wenig genauer betrach-
ten wollen/ die Gemuͤths-Neigungen ſich
eher als die Verwunderung blicken laſſen/ indem
entweder der Mangel der Nahrung/ oder die
Empfindung wegen Veraͤnderung der Lufft/ oder
der Schmertz wegen der Geburt denen Kindern
Zeichen eines Verlangens auspreßet.

31. So iſt auch Carteſius darinnen irrig/
wenn er ſaget/ daß die Bewunderung/ (ſo fer-
ne nemlich dieſelbige vor der Liebe eines Dinges

vorher
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0130" n="118"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Das 4. H. wie vielerley die Gem. N.</hi></fw><lb/>
ich das <hi rendition="#i"><hi rendition="#aq">rai&#x017F;onnement</hi></hi> des <hi rendition="#i"><hi rendition="#aq">Carte&#x017F;ii</hi></hi> gerade umb-<lb/>
kehre. Eben deswegen/ weil wir uns u&#x0364;ber etwas<lb/>
verwundern ohne An&#x017F;ehen/ ob es gut &#x017F;ey oder<lb/>
nicht/ &#x017F;o i&#x017F;t zwar die Verwunderung <hi rendition="#fr">eine Lei-<lb/>
den&#x017F;chafft des Ver&#x017F;tandes/</hi> die zuweilen vor<lb/>
denen Leiden&#x017F;chafften des Willens und vor der<lb/>
Liebe vorgehet/ aber &#x017F;ie i&#x017F;t <hi rendition="#fr">niemahls eine Ge-<lb/>
mu&#x0364;ths-Leiden&#x017F;chafft.</hi></p><lb/>
        <p>30. Und ob wol hiernech&#x017F;t nicht zu la&#x0364;ugnen<lb/>
i&#x017F;t/ daß die Verwunderung der Seelen &#x017F;ich al&#x017F;o-<lb/>
bald bey denen klein&#x017F;ten Kindern hervor thut/ in-<lb/>
dem &#x017F;ie bald nach der Geburt die Ge&#x017F;cho&#x0364;pffe/<lb/>
oder vielmehr das Licht gleich&#x017F;am er&#x017F;taunend an-<lb/>
&#x017F;ehen/ und disfalls einem Trunckenen gleichen/<lb/>
der aus dem er&#x017F;ten Schlaff erwachet; bey die&#x017F;er<lb/>
Bewandniß aber <hi rendition="#fr">die Verwunderung die al-<lb/>
lerer&#x017F;te Leiden&#x017F;chafft</hi> wo nicht des Gemu&#x0364;ths/<lb/>
doch der Men&#x017F;chlichen Seelen zu &#x017F;eyn &#x017F;cheinet;<lb/>
So i&#x017F;t doch ausgemacht/ daß wenn wir die Na-<lb/>
tur des Men&#x017F;chen ein wenig genauer betrach-<lb/>
ten wollen/ die <hi rendition="#fr">Gemu&#x0364;ths-Neigungen</hi> &#x017F;ich<lb/>
eher als die Verwunderung blicken la&#x017F;&#x017F;en/ indem<lb/>
entweder der Mangel der Nahrung/ oder die<lb/>
Empfindung wegen Vera&#x0364;nderung der Lufft/ oder<lb/>
der Schmertz wegen der Geburt denen Kindern<lb/>
Zeichen eines Verlangens auspreßet.</p><lb/>
        <p>31. So i&#x017F;t auch <hi rendition="#i"><hi rendition="#aq">Carte&#x017F;ius</hi></hi> darinnen irrig/<lb/>
wenn er &#x017F;aget/ <hi rendition="#fr">daß die Bewunderung/</hi> (&#x017F;o fer-<lb/>
ne nemlich die&#x017F;elbige vor der Liebe eines Dinges<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">vorher</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[118/0130] Das 4. H. wie vielerley die Gem. N. ich das raiſonnement des Carteſii gerade umb- kehre. Eben deswegen/ weil wir uns uͤber etwas verwundern ohne Anſehen/ ob es gut ſey oder nicht/ ſo iſt zwar die Verwunderung eine Lei- denſchafft des Verſtandes/ die zuweilen vor denen Leidenſchafften des Willens und vor der Liebe vorgehet/ aber ſie iſt niemahls eine Ge- muͤths-Leidenſchafft. 30. Und ob wol hiernechſt nicht zu laͤugnen iſt/ daß die Verwunderung der Seelen ſich alſo- bald bey denen kleinſten Kindern hervor thut/ in- dem ſie bald nach der Geburt die Geſchoͤpffe/ oder vielmehr das Licht gleichſam erſtaunend an- ſehen/ und disfalls einem Trunckenen gleichen/ der aus dem erſten Schlaff erwachet; bey dieſer Bewandniß aber die Verwunderung die al- lererſte Leidenſchafft wo nicht des Gemuͤths/ doch der Menſchlichen Seelen zu ſeyn ſcheinet; So iſt doch ausgemacht/ daß wenn wir die Na- tur des Menſchen ein wenig genauer betrach- ten wollen/ die Gemuͤths-Neigungen ſich eher als die Verwunderung blicken laſſen/ indem entweder der Mangel der Nahrung/ oder die Empfindung wegen Veraͤnderung der Lufft/ oder der Schmertz wegen der Geburt denen Kindern Zeichen eines Verlangens auspreßet. 31. So iſt auch Carteſius darinnen irrig/ wenn er ſaget/ daß die Bewunderung/ (ſo fer- ne nemlich dieſelbige vor der Liebe eines Dinges vorher

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_ausuebungsittenlehre_1696
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_ausuebungsittenlehre_1696/130
Zitationshilfe: Thomasius, Christian: Ausübung Der SittenLehre. Halle (Saale), 1696, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_ausuebungsittenlehre_1696/130>, abgerufen am 24.11.2024.