zog nun ein in Jerusalem, als ein König, der dazu gebohren, und in die Welt kommen war, die Wahrheit zu zeugen, und dies Zeugnis mit sei- nem Blute zu versiegeln.
So ging der Herr ins Leben durch den Tod, und auf eben diesem Wege ging sein abgefallner, sein verlohrner Jünger in den Tod, ach in den Tod der zu späten, zu ängstlichen Reue, ach in den Tod der Verzweiflung! Ich darf ihm nicht weiter nachsehu, aber so weit mein Blik ihn verfolgen kann, darf er in Mitleid sich trüben, denn welch ein Mitleid bezeugte ihm nicht unser Herr! ich darf ihn nicht richten, aber in ihm und aus ihm den Menschen, ich muß also von ihm zurüksehn auf mich! Judas war kein Erzbösewigt, war es zum wenigsten sonst nicht gewesen, ein Erzböse- wigt konnte kein Jünger, kein Apostel Jesu sein; Judas war kein, nach allen Gemüthsneigungen verderbter Mensch; er hatte nur eine böse Lei- denschaft; er war nicht ein Ehbrecher, nicht ein Stehler, nicht ein Mörder, er war nur geizig. Nur geizig? Daß ich doch nie so fragte, son- dern diese Frage immer so stellte: Judas war also sogar geizig? Und wenn mir dies aus der Geschichte seines elenden Lebens, auch aus den an- derweitigen, würklich guten, Aeusserungen seines Herzens klar und gewis wird, daß ich dann doch fühlte, wie wahr, wie ganz allgemein wahr das sei, was so ganz allgemein die Schrift sagt: Geiz ist eine Wurzel alles Uebels! Diese Wurzel treibt also nichts als Blätter ohne Frucht, oder die Frucht ist nur von giftiger Art. Die da reich
wer-
verrathen von ſeinem Jünger.
zog nun ein in Jeruſalem, als ein König, der dazu gebohren, und in die Welt kommen war, die Wahrheit zu zeugen, und dies Zeugnis mit ſei- nem Blute zu verſiegeln.
So ging der Herr ins Leben durch den Tod, und auf eben dieſem Wege ging ſein abgefallner, ſein verlohrner Jünger in den Tod, ach in den Tod der zu ſpäten, zu ängſtlichen Reue, ach in den Tod der Verzweiflung! Ich darf ihm nicht weiter nachſehu, aber ſo weit mein Blik ihn verfolgen kann, darf er in Mitleid ſich trüben, denn welch ein Mitleid bezeugte ihm nicht unſer Herr! ich darf ihn nicht richten, aber in ihm und aus ihm den Menſchen, ich muß alſo von ihm zurükſehn auf mich! Judas war kein Erzböſewigt, war es zum wenigſten ſonſt nicht geweſen, ein Erzböſe- wigt konnte kein Jünger, kein Apoſtel Jeſu ſein; Judas war kein, nach allen Gemüthsneigungen verderbter Menſch; er hatte nur eine böſe Lei- denſchaft; er war nicht ein Ehbrecher, nicht ein Stehler, nicht ein Mörder, er war nur geizig. Nur geizig? Daß ich doch nie ſo fragte, ſon- dern dieſe Frage immer ſo ſtellte: Judas war alſo ſogar geizig? Und wenn mir dies aus der Geſchichte ſeines elenden Lebens, auch aus den an- derweitigen, würklich guten, Aeuſſerungen ſeines Herzens klar und gewis wird, daß ich dann doch fühlte, wie wahr, wie ganz allgemein wahr das ſei, was ſo ganz allgemein die Schrift ſagt: Geiz iſt eine Wurzel alles Uebels! Dieſe Wurzel treibt alſo nichts als Blätter ohne Frucht, oder die Frucht iſt nur von giftiger Art. Die da reich
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verrathen von ſeinem Jünger.
zog nun ein in Jeruſalem, als ein König, der
dazu gebohren, und in die Welt kommen war, die
Wahrheit zu zeugen, und dies Zeugnis mit ſei-
nem Blute zu verſiegeln.
So ging der Herr ins Leben durch den Tod,
und auf eben dieſem Wege ging ſein abgefallner,
ſein verlohrner Jünger in den Tod, ach in den
Tod der zu ſpäten, zu ängſtlichen Reue, ach in den
Tod der Verzweiflung! Ich darf ihm nicht weiter
nachſehu, aber ſo weit mein Blik ihn verfolgen
kann, darf er in Mitleid ſich trüben, denn welch
ein Mitleid bezeugte ihm nicht unſer Herr! ich
darf ihn nicht richten, aber in ihm und aus ihm
den Menſchen, ich muß alſo von ihm zurükſehn
auf mich! Judas war kein Erzböſewigt, war es
zum wenigſten ſonſt nicht geweſen, ein Erzböſe-
wigt konnte kein Jünger, kein Apoſtel Jeſu ſein;
Judas war kein, nach allen Gemüthsneigungen
verderbter Menſch; er hatte nur eine böſe Lei-
denſchaft; er war nicht ein Ehbrecher, nicht ein
Stehler, nicht ein Mörder, er war nur geizig.
Nur geizig? Daß ich doch nie ſo fragte, ſon-
dern dieſe Frage immer ſo ſtellte: Judas war
alſo ſogar geizig? Und wenn mir dies aus der
Geſchichte ſeines elenden Lebens, auch aus den an-
derweitigen, würklich guten, Aeuſſerungen ſeines
Herzens klar und gewis wird, daß ich dann doch
fühlte, wie wahr, wie ganz allgemein wahr das
ſei, was ſo ganz allgemein die Schrift ſagt: Geiz
iſt eine Wurzel alles Uebels! Dieſe Wurzel
treibt alſo nichts als Blätter ohne Frucht, oder
die Frucht iſt nur von giftiger Art. Die da reich
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Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/77>, abgerufen am 16.02.2025.
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