Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.

Bild:
<< vorherige Seite

verrathen von seinem Jünger.
lezt, bei den immer stärkern Nachstellungen seiner
Feinde, denen er nur leidend entgegen ging, an
ihm, als Messias, irre ward, wie ich zugeben
will, doch, nach der geheimsten Empfindung seines
Herzens, wie nach der lautesten Sprache seiner
Vernunft, wie ich mich überzeugt halten muß, in
ihm immer den besten und größesten, den weise-
sten und gütigsten Menschen. Und den verrieth
er den verworfensten, boshaftesten Menschen, die
seine geschworensten Feinde waren, die nichts hef-
tiger wünschten, nichts eifriger suchten, als ihn
zum schimpflichsten und peinlichsten Tode zu brin-
gen, die darüber schon mehrmals mit einander
gerathschlagt, die nun schon sein Todesurtheil so
öffentlich, als ihre Wuth, und so heimlich, als
ihre Feigheit sie antrieb und zurüktrieb, gefällt
und bekannt gemacht hatten. Schreklich ists
auch, und fast noch schreklicher, wenn man be-
denkt, wann und wie Judas Jesum verrieth.
Zu einer Zeit, wie Jesus so gerührt als rührend
sprach, wie eine so sanfte Trauer und eine so
stille Heiterkeit in allen seinen Gesichtszügen lag,
in allen seinen Bewegungen sich ausdrukte, über
alle seine Reden sich verbreitete, und so zum herr-
schenden Ton einer kleinen, durch Bande der Liebe
geschloßnen, ganz an Jesu angeschloßnen Gesell-
schaft wurde, an dem Tage, wie der, schon vom
hohen Rath verfolgte, Jesus in dem Hause Si-
mons des Aussäzzigen eine so liebreiche Aufname
und bei der Tafel eine so ehrenvolle Begegnung
fand, da, und vielleicht in dem Augenblik des
höchsten, des andächtigsten Vergnügens, was in

Jesu
D 4

verrathen von ſeinem Jünger.
lezt, bei den immer ſtärkern Nachſtellungen ſeiner
Feinde, denen er nur leidend entgegen ging, an
ihm, als Meſſias, irre ward, wie ich zugeben
will, doch, nach der geheimſten Empfindung ſeines
Herzens, wie nach der lauteſten Sprache ſeiner
Vernunft, wie ich mich überzeugt halten muß, in
ihm immer den beſten und größeſten, den weiſe-
ſten und gütigſten Menſchen. Und den verrieth
er den verworfenſten, boshafteſten Menſchen, die
ſeine geſchworenſten Feinde waren, die nichts hef-
tiger wünſchten, nichts eifriger ſuchten, als ihn
zum ſchimpflichſten und peinlichſten Tode zu brin-
gen, die darüber ſchon mehrmals mit einander
gerathſchlagt, die nun ſchon ſein Todesurtheil ſo
öffentlich, als ihre Wuth, und ſo heimlich, als
ihre Feigheit ſie antrieb und zurüktrieb, gefällt
und bekannt gemacht hatten. Schreklich iſts
auch, und faſt noch ſchreklicher, wenn man be-
denkt, wann und wie Judas Jeſum verrieth.
Zu einer Zeit, wie Jeſus ſo gerührt als rührend
ſprach, wie eine ſo ſanfte Trauer und eine ſo
ſtille Heiterkeit in allen ſeinen Geſichtszügen lag,
in allen ſeinen Bewegungen ſich ausdrukte, über
alle ſeine Reden ſich verbreitete, und ſo zum herr-
ſchenden Ton einer kleinen, durch Bande der Liebe
geſchloßnen, ganz an Jeſu angeſchloßnen Geſell-
ſchaft wurde, an dem Tage, wie der, ſchon vom
hohen Rath verfolgte, Jeſus in dem Hauſe Si-
mons des Ausſäzzigen eine ſo liebreiche Aufname
und bei der Tafel eine ſo ehrenvolle Begegnung
fand, da, und vielleicht in dem Augenblik des
höchſten, des andächtigſten Vergnügens, was in

Jeſu
D 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0069" n="55"/><fw place="top" type="header">verrathen von &#x017F;einem Jünger.</fw><lb/>
lezt, bei den immer &#x017F;tärkern Nach&#x017F;tellungen &#x017F;einer<lb/>
Feinde, denen er nur leidend entgegen ging, an<lb/>
ihm, als Me&#x017F;&#x017F;ias, irre ward, wie ich zugeben<lb/>
will, doch, nach der geheim&#x017F;ten Empfindung &#x017F;eines<lb/>
Herzens, wie nach der laute&#x017F;ten Sprache &#x017F;einer<lb/>
Vernunft, wie ich mich überzeugt halten muß, in<lb/>
ihm immer den be&#x017F;ten und größe&#x017F;ten, den wei&#x017F;e-<lb/>
&#x017F;ten und gütig&#x017F;ten Men&#x017F;chen. Und den verrieth<lb/>
er den verworfen&#x017F;ten, boshafte&#x017F;ten Men&#x017F;chen, die<lb/>
&#x017F;eine ge&#x017F;chworen&#x017F;ten Feinde waren, die nichts hef-<lb/>
tiger wün&#x017F;chten, nichts eifriger &#x017F;uchten, als ihn<lb/>
zum &#x017F;chimpflich&#x017F;ten und peinlich&#x017F;ten Tode zu brin-<lb/>
gen, die darüber &#x017F;chon mehrmals mit einander<lb/>
gerath&#x017F;chlagt, die nun &#x017F;chon &#x017F;ein Todesurtheil &#x017F;o<lb/>
öffentlich, als ihre Wuth, und &#x017F;o heimlich, als<lb/>
ihre Feigheit &#x017F;ie antrieb und zurüktrieb, gefällt<lb/>
und bekannt gemacht hatten. Schreklich i&#x017F;ts<lb/>
auch, und fa&#x017F;t noch &#x017F;chreklicher, wenn man be-<lb/>
denkt, <hi rendition="#fr">wann</hi> und <hi rendition="#fr">wie</hi> Judas Je&#x017F;um verrieth.<lb/>
Zu einer Zeit, wie Je&#x017F;us &#x017F;o gerührt als rührend<lb/>
&#x017F;prach, wie eine &#x017F;o &#x017F;anfte Trauer und eine &#x017F;o<lb/>
&#x017F;tille Heiterkeit in allen &#x017F;einen Ge&#x017F;ichtszügen lag,<lb/>
in allen &#x017F;einen Bewegungen &#x017F;ich ausdrukte, über<lb/>
alle &#x017F;eine Reden &#x017F;ich verbreitete, und &#x017F;o zum herr-<lb/>
&#x017F;chenden Ton einer kleinen, durch Bande der Liebe<lb/>
ge&#x017F;chloßnen, ganz an Je&#x017F;u ange&#x017F;chloßnen Ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chaft wurde, an dem Tage, wie der, &#x017F;chon vom<lb/>
hohen Rath verfolgte, Je&#x017F;us in dem Hau&#x017F;e Si-<lb/>
mons des Aus&#x017F;äzzigen eine &#x017F;o liebreiche Aufname<lb/>
und bei der Tafel eine &#x017F;o ehrenvolle Begegnung<lb/>
fand, da, und vielleicht in dem Augenblik des<lb/>
höch&#x017F;ten, des andächtig&#x017F;ten Vergnügens, was in<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D 4</fw><fw place="bottom" type="catch">Je&#x017F;u</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[55/0069] verrathen von ſeinem Jünger. lezt, bei den immer ſtärkern Nachſtellungen ſeiner Feinde, denen er nur leidend entgegen ging, an ihm, als Meſſias, irre ward, wie ich zugeben will, doch, nach der geheimſten Empfindung ſeines Herzens, wie nach der lauteſten Sprache ſeiner Vernunft, wie ich mich überzeugt halten muß, in ihm immer den beſten und größeſten, den weiſe- ſten und gütigſten Menſchen. Und den verrieth er den verworfenſten, boshafteſten Menſchen, die ſeine geſchworenſten Feinde waren, die nichts hef- tiger wünſchten, nichts eifriger ſuchten, als ihn zum ſchimpflichſten und peinlichſten Tode zu brin- gen, die darüber ſchon mehrmals mit einander gerathſchlagt, die nun ſchon ſein Todesurtheil ſo öffentlich, als ihre Wuth, und ſo heimlich, als ihre Feigheit ſie antrieb und zurüktrieb, gefällt und bekannt gemacht hatten. Schreklich iſts auch, und faſt noch ſchreklicher, wenn man be- denkt, wann und wie Judas Jeſum verrieth. Zu einer Zeit, wie Jeſus ſo gerührt als rührend ſprach, wie eine ſo ſanfte Trauer und eine ſo ſtille Heiterkeit in allen ſeinen Geſichtszügen lag, in allen ſeinen Bewegungen ſich ausdrukte, über alle ſeine Reden ſich verbreitete, und ſo zum herr- ſchenden Ton einer kleinen, durch Bande der Liebe geſchloßnen, ganz an Jeſu angeſchloßnen Geſell- ſchaft wurde, an dem Tage, wie der, ſchon vom hohen Rath verfolgte, Jeſus in dem Hauſe Si- mons des Ausſäzzigen eine ſo liebreiche Aufname und bei der Tafel eine ſo ehrenvolle Begegnung fand, da, und vielleicht in dem Augenblik des höchſten, des andächtigſten Vergnügens, was in Jeſu D 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/69
Zitationshilfe: Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/69>, abgerufen am 24.11.2024.