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Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.

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verrathen von seinem Jünger.
Erforsch Du mich, erfahr mein Herz,
und sieh, Herr, wie ichs meine;
ich denk an deines Leidens Schmerz,
an deine Lieb und weine;
ich denk an deines Jüngers List,
der dich verräth, wie er dich küßt,
an seinen Geiz, und bebe!

Christus und Belial! Gott und Satan in Men-
schengestalt, und Menschennatur, in Fleisch und
Blut verkleidet, stehn hier in diesem Auftritt bei
einander. Wie würd er durch alle Zeiten hin-
durch den Namen des Judas mit schwärzester
Schande brandmahlen, wenn nicht die hellste Un-
schuld sein Andenken, und das Andenken seiner
Greuelthat, so weit überstrahlte, und wenn nicht
diese Strahlen, glänzender und doch milder, wie
die der, alles umscheinenden, alles belebenden, alles
erwärmenden, Sonne, auch auf ihn zurükfielen.
Zwar er entzog sich ihrem Würkungskreise so weit
er konnte, aus diesem Leben heraus; die Sonne
der Erde ging für ihn unter im finstersten Ge-
wölk: aber von welchem Schatten sein Schat-
ten in der andern Welt verfolgt, umhergetrieben
ward -- wer darf das behaupten, wer kann das
errathen, wer mag das wissen? Er ging hin an
seinen Ort.

Allerdings ist die Verrätherei, die Judas an
Jesus beging, eine der allerschreklichsten Thaten,
sie ist schlechthin die schwärzeste Ausgeburt der
Finsternis, die allerabscheulichste That, so bald

wir
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verrathen von ſeinem Jünger.
Erforſch Du mich, erfahr mein Herz,
und ſieh, Herr, wie ichs meine;
ich denk an deines Leidens Schmerz,
an deine Lieb und weine;
ich denk an deines Jüngers Liſt,
der dich verräth, wie er dich küßt,
an ſeinen Geiz, und bebe!

Chriſtus und Belial! Gott und Satan in Men-
ſchengeſtalt, und Menſchennatur, in Fleiſch und
Blut verkleidet, ſtehn hier in dieſem Auftritt bei
einander. Wie würd er durch alle Zeiten hin-
durch den Namen des Judas mit ſchwärzeſter
Schande brandmahlen, wenn nicht die hellſte Un-
ſchuld ſein Andenken, und das Andenken ſeiner
Greuelthat, ſo weit überſtrahlte, und wenn nicht
dieſe Strahlen, glänzender und doch milder, wie
die der, alles umſcheinenden, alles belebenden, alles
erwärmenden, Sonne, auch auf ihn zurükfielen.
Zwar er entzog ſich ihrem Würkungskreiſe ſo weit
er konnte, aus dieſem Leben heraus; die Sonne
der Erde ging für ihn unter im finſterſten Ge-
wölk: aber von welchem Schatten ſein Schat-
ten in der andern Welt verfolgt, umhergetrieben
ward — wer darf das behaupten, wer kann das
errathen, wer mag das wiſſen? Er ging hin an
ſeinen Ort.

Allerdings iſt die Verrätherei, die Judas an
Jeſus beging, eine der allerſchreklichſten Thaten,
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Finſternis, die allerabſcheulichſte That, ſo bald

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[53/0067] verrathen von ſeinem Jünger. Erforſch Du mich, erfahr mein Herz, und ſieh, Herr, wie ichs meine; ich denk an deines Leidens Schmerz, an deine Lieb und weine; ich denk an deines Jüngers Liſt, der dich verräth, wie er dich küßt, an ſeinen Geiz, und bebe! Chriſtus und Belial! Gott und Satan in Men- ſchengeſtalt, und Menſchennatur, in Fleiſch und Blut verkleidet, ſtehn hier in dieſem Auftritt bei einander. Wie würd er durch alle Zeiten hin- durch den Namen des Judas mit ſchwärzeſter Schande brandmahlen, wenn nicht die hellſte Un- ſchuld ſein Andenken, und das Andenken ſeiner Greuelthat, ſo weit überſtrahlte, und wenn nicht dieſe Strahlen, glänzender und doch milder, wie die der, alles umſcheinenden, alles belebenden, alles erwärmenden, Sonne, auch auf ihn zurükfielen. Zwar er entzog ſich ihrem Würkungskreiſe ſo weit er konnte, aus dieſem Leben heraus; die Sonne der Erde ging für ihn unter im finſterſten Ge- wölk: aber von welchem Schatten ſein Schat- ten in der andern Welt verfolgt, umhergetrieben ward — wer darf das behaupten, wer kann das errathen, wer mag das wiſſen? Er ging hin an ſeinen Ort. Allerdings iſt die Verrätherei, die Judas an Jeſus beging, eine der allerſchreklichſten Thaten, ſie iſt ſchlechthin die ſchwärzeſte Ausgeburt der Finſternis, die allerabſcheulichſte That, ſo bald wir D 3

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Zitationshilfe: Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/67>, abgerufen am 24.11.2024.