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Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.

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in der Selenangst am Oelberge.
rem wohlthätigen, milden Abglanz mich son-
nen. Unsre Menschennatur, das empfinden, das
gestehn wir doch wohl alle, würde das nicht ha-
ben tragen können, was Er, der einzig vollkommne
Mensch, hier ertrug. So reicht denn freilich
auch dein und mein Nachdenken und Mitempfin-
den, wie reg es auch sei, nicht hin, um die Na-
tur
dieses Selenleidens Jesu ganz zu begreifen:
aber von dem, was wir begreifen können, dürfen
wir doch auch nichts fahren lassen. Und wir
entbehren gerade das Wigtigste, wenn wir nicht
hiebei auch auf das Göttliche und Verdienst-
liche
sehn wollten, was sich, wie im ganzen
Leben,
so auch im ganzen Leiden, und wie im
ganzen Leider, so auch in diesem Selenleiden
Jesu offenbart.

Offenbare du das meinem Geist, Geist des Herrn,
der du allein weißt, was in Gott ist, offenbar mir das
so, daß, wenn auch ich hinunter muß ins finstre Thal
des Todes, mich dann nicht graue, daß aus der Nacht,
in welcher du auch für mich hingingst in die aller-
tiefste Nacht der Leiden, ein Licht in meine Sele falle,
und wie schwach es dann auch vor meinem brechen-
den Aug nur scheine, ich doch ein starkes Gefühl
davon habe, du werdest, du könnest das glimmende
Tocht nicht auslöschen.

Wie und warum erduldete Jesus dies Selen-
leiden am Oelberg? Eine ehrliche Untersuchung
dieser beiden Fragen wird mich, muß mich auf
das Göttliche und Verdienstliche in diesem
Selenleiden führen, oder ich kann es gar nicht
darin finden.

Wie
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in der Selenangſt am Oelberge.
rem wohlthätigen, milden Abglanz mich ſon-
nen. Unſre Menſchennatur, das empfinden, das
geſtehn wir doch wohl alle, würde das nicht ha-
ben tragen können, was Er, der einzig vollkommne
Menſch, hier ertrug. So reicht denn freilich
auch dein und mein Nachdenken und Mitempfin-
den, wie reg es auch ſei, nicht hin, um die Na-
tur
dieſes Selenleidens Jeſu ganz zu begreifen:
aber von dem, was wir begreifen können, dürfen
wir doch auch nichts fahren laſſen. Und wir
entbehren gerade das Wigtigſte, wenn wir nicht
hiebei auch auf das Göttliche und Verdienſt-
liche
ſehn wollten, was ſich, wie im ganzen
Leben,
ſo auch im ganzen Leiden, und wie im
ganzen Leider, ſo auch in dieſem Selenleiden
Jeſu offenbart.

Offenbare du das meinem Geiſt, Geiſt des Herrn,
der du allein weißt, was in Gott iſt, offenbar mir das
ſo, daß, wenn auch ich hinunter muß ins finſtre Thal
des Todes, mich dann nicht graue, daß aus der Nacht,
in welcher du auch für mich hingingſt in die aller-
tiefſte Nacht der Leiden, ein Licht in meine Sele falle,
und wie ſchwach es dann auch vor meinem brechen-
den Aug nur ſcheine, ich doch ein ſtarkes Gefühl
davon habe, du werdeſt, du könneſt das glimmende
Tocht nicht auslöſchen.

Wie und warum erduldete Jeſus dies Selen-
leiden am Oelberg? Eine ehrliche Unterſuchung
dieſer beiden Fragen wird mich, muß mich auf
das Göttliche und Verdienſtliche in dieſem
Selenleiden führen, oder ich kann es gar nicht
darin finden.

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[41/0055] in der Selenangſt am Oelberge. rem wohlthätigen, milden Abglanz mich ſon- nen. Unſre Menſchennatur, das empfinden, das geſtehn wir doch wohl alle, würde das nicht ha- ben tragen können, was Er, der einzig vollkommne Menſch, hier ertrug. So reicht denn freilich auch dein und mein Nachdenken und Mitempfin- den, wie reg es auch ſei, nicht hin, um die Na- tur dieſes Selenleidens Jeſu ganz zu begreifen: aber von dem, was wir begreifen können, dürfen wir doch auch nichts fahren laſſen. Und wir entbehren gerade das Wigtigſte, wenn wir nicht hiebei auch auf das Göttliche und Verdienſt- liche ſehn wollten, was ſich, wie im ganzen Leben, ſo auch im ganzen Leiden, und wie im ganzen Leider, ſo auch in dieſem Selenleiden Jeſu offenbart. Offenbare du das meinem Geiſt, Geiſt des Herrn, der du allein weißt, was in Gott iſt, offenbar mir das ſo, daß, wenn auch ich hinunter muß ins finſtre Thal des Todes, mich dann nicht graue, daß aus der Nacht, in welcher du auch für mich hingingſt in die aller- tiefſte Nacht der Leiden, ein Licht in meine Sele falle, und wie ſchwach es dann auch vor meinem brechen- den Aug nur ſcheine, ich doch ein ſtarkes Gefühl davon habe, du werdeſt, du könneſt das glimmende Tocht nicht auslöſchen. Wie und warum erduldete Jeſus dies Selen- leiden am Oelberg? Eine ehrliche Unterſuchung dieſer beiden Fragen wird mich, muß mich auf das Göttliche und Verdienſtliche in dieſem Selenleiden führen, oder ich kann es gar nicht darin finden. Wie C 5

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Zitationshilfe: Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/55>, abgerufen am 22.07.2024.