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Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.

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|Unser Herr,
Kreuzigung erhalten hatte, und die Seitenwunde, die
ihm noch im Tode war beigebracht worden, scheint er
an seinem unverlezlichen, vielleicht nicht einmal im-
mer berührbaren Körper nur als Kenn- und Siegs-
zeichen
getragen zu haben. So geschäftig wie er vor
seinem Tode als Mensch war, ist er nun auch nicht mehr
nach seiner Auferstehung. Mit ihr war das Siegel der
Göttlichkeit seinem bisherigen Menschenwandel auf-
gedrukt; dies Siegel würde, wo nicht gebrochen, doch
gelößt sein, wenn er nun noch als Menschensohn auf
Erden gewandelt wäre. Als Herr der Schöpfung
ging er nun umher, nicht mehr unter den Juden als
ein Jude, nicht mehr unter den Samaritern als Leh-
rer,
nicht mehr in den Synagogen als Prediger,
nicht mehr auf den Heerstraßen als wunderthätiger
Arzt,
ganz ungesehen von dem Volke, das verflucht
war durch sich selbst, ganz ungesehn von den Gelehrten
und Priestern, die gegen den heiligen Geist an lästerten,
im Cirkel seiner Getreuen, und doch immer wie
außer diesem Cirkel. Nicht sowohl in ihm würkte er
izt noch, als vielmehr auf ihn, und in, immer höhrer,
Entfernung.

Nichts Rührenders weiß ich mir zu denken, als die
Lage, worin die Freunde und Jünger Jesu bei und nach
seinem Tode waren. Und wenn ich sie mir so recht ver-
gegenwärtigt, und das Peinliche derselben empfunden
habe: so weiß ich mir nichts Erquikkenders vorzu-
stellen, als den Anbruch des Tags, an welchem Jesus
aus seinem Grabe auferstand, und die frohe Verwirrung,
in welcher sich die Freunde Jesu diesen Tag über befan-
den. Ein solcher Tag kommt nicht wieder, es sei denn
der Tag unsrer Auferstehung! ---- In den beiden Näch-
ten, in welchen der Leichnam Jesu in Josephs Garten
hinter Golgatha ruhte, hatten seine Jünger und Freunde
wohl wenig Ruhe gehabt. Immer schwebte ihnen ge-
wis sein Bild, b[e]sonders wie er da am Kreuz hing, und
sich langsam verblutete, vor Augen; und dann waren sie
im Geist wieder in Josephs Garten, und sahen seiner
Beerdigung zu. An die Auferstehung Jesu dachten

sie

|Unſer Herr,
Kreuzigung erhalten hatte, und die Seitenwunde, die
ihm noch im Tode war beigebracht worden, ſcheint er
an ſeinem unverlezlichen, vielleicht nicht einmal im-
mer berührbaren Körper nur als Kenn- und Siegs-
zeichen
getragen zu haben. So geſchäftig wie er vor
ſeinem Tode als Menſch war, iſt er nun auch nicht mehr
nach ſeiner Auferſtehung. Mit ihr war das Siegel der
Göttlichkeit ſeinem bisherigen Menſchenwandel auf-
gedrukt; dies Siegel würde, wo nicht gebrochen, doch
gelößt ſein, wenn er nun noch als Menſchenſohn auf
Erden gewandelt wäre. Als Herr der Schöpfung
ging er nun umher, nicht mehr unter den Juden als
ein Jude, nicht mehr unter den Samaritern als Leh-
rer,
nicht mehr in den Synagogen als Prediger,
nicht mehr auf den Heerſtraßen als wunderthätiger
Arzt,
ganz ungeſehen von dem Volke, das verflucht
war durch ſich ſelbſt, ganz ungeſehn von den Gelehrten
und Prieſtern, die gegen den heiligen Geiſt an läſterten,
im Cirkel ſeiner Getreuen, und doch immer wie
außer dieſem Cirkel. Nicht ſowohl in ihm würkte er
izt noch, als vielmehr auf ihn, und in, immer höhrer,
Entfernung.

Nichts Rührenders weiß ich mir zu denken, als die
Lage, worin die Freunde und Jünger Jeſu bei und nach
ſeinem Tode waren. Und wenn ich ſie mir ſo recht ver-
gegenwärtigt, und das Peinliche derſelben empfunden
habe: ſo weiß ich mir nichts Erquikkenders vorzu-
ſtellen, als den Anbruch des Tags, an welchem Jeſus
aus ſeinem Grabe auferſtand, und die frohe Verwirrung,
in welcher ſich die Freunde Jeſu dieſen Tag über befan-
den. Ein ſolcher Tag kommt nicht wieder, es ſei denn
der Tag unſrer Auferſtehung! —— In den beiden Näch-
ten, in welchen der Leichnam Jeſu in Joſephs Garten
hinter Golgatha ruhte, hatten ſeine Jünger und Freunde
wohl wenig Ruhe gehabt. Immer ſchwebte ihnen ge-
wis ſein Bild, b[e]ſonders wie er da am Kreuz hing, und
ſich langſam verblutete, vor Augen; und dann waren ſie
im Geiſt wieder in Joſephs Garten, und ſahen ſeiner
Beerdigung zu. An die Auferſtehung Jeſu dachten

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[136/0150] |Unſer Herr, Kreuzigung erhalten hatte, und die Seitenwunde, die ihm noch im Tode war beigebracht worden, ſcheint er an ſeinem unverlezlichen, vielleicht nicht einmal im- mer berührbaren Körper nur als Kenn- und Siegs- zeichen getragen zu haben. So geſchäftig wie er vor ſeinem Tode als Menſch war, iſt er nun auch nicht mehr nach ſeiner Auferſtehung. Mit ihr war das Siegel der Göttlichkeit ſeinem bisherigen Menſchenwandel auf- gedrukt; dies Siegel würde, wo nicht gebrochen, doch gelößt ſein, wenn er nun noch als Menſchenſohn auf Erden gewandelt wäre. Als Herr der Schöpfung ging er nun umher, nicht mehr unter den Juden als ein Jude, nicht mehr unter den Samaritern als Leh- rer, nicht mehr in den Synagogen als Prediger, nicht mehr auf den Heerſtraßen als wunderthätiger Arzt, ganz ungeſehen von dem Volke, das verflucht war durch ſich ſelbſt, ganz ungeſehn von den Gelehrten und Prieſtern, die gegen den heiligen Geiſt an läſterten, im Cirkel ſeiner Getreuen, und doch immer wie außer dieſem Cirkel. Nicht ſowohl in ihm würkte er izt noch, als vielmehr auf ihn, und in, immer höhrer, Entfernung. Nichts Rührenders weiß ich mir zu denken, als die Lage, worin die Freunde und Jünger Jeſu bei und nach ſeinem Tode waren. Und wenn ich ſie mir ſo recht ver- gegenwärtigt, und das Peinliche derſelben empfunden habe: ſo weiß ich mir nichts Erquikkenders vorzu- ſtellen, als den Anbruch des Tags, an welchem Jeſus aus ſeinem Grabe auferſtand, und die frohe Verwirrung, in welcher ſich die Freunde Jeſu dieſen Tag über befan- den. Ein ſolcher Tag kommt nicht wieder, es ſei denn der Tag unſrer Auferſtehung! —— In den beiden Näch- ten, in welchen der Leichnam Jeſu in Joſephs Garten hinter Golgatha ruhte, hatten ſeine Jünger und Freunde wohl wenig Ruhe gehabt. Immer ſchwebte ihnen ge- wis ſein Bild, beſonders wie er da am Kreuz hing, und ſich langſam verblutete, vor Augen; und dann waren ſie im Geiſt wieder in Joſephs Garten, und ſahen ſeiner Beerdigung zu. An die Auferſtehung Jeſu dachten ſie

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Zitationshilfe: Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/150>, abgerufen am 16.11.2024.