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Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.

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Unser Herr,
Menschwerdung oder nach der Himmelfahrt Jesu
mit ihm und von ihm im Himmel geschehen ist,
denn sie ist nur Geschichte des göttlichen Men-
schenlebens
Jesu, oder des Lebens, welches der
Sohn Gottes auf Erden geführt hat: aber die
evangelische Lehre gedenkt ihrer, und sie durfte
auch davon nicht schweigen, so wenig wie davon,
daß der menschgewordne Heiland der eingebohrne
Sohn Gottes, das Ebenbild seines Wesens, der
Abglanz seiner Herrlichkeit, und daß der, gen
Himmel gefahrne, Erldser vorher im Himmel, ia
eher denn der Himmel gewesen, und der Schöpfer
auch des Himmels sei.

Jesus war, das giebt schon die Natur der
Sache, und die Göttlichkeit seiner Natur, auch
in seinem Tode lebendig. Todt war nur sein Kör-
per, lebendig blieb sein Geist. Im Grabe ruhte
nur sein Leichnam, ausser dem Grabe war seine
allerthätigste Sele geschäftig. Das muß doch
zugeben, wer die Unsterblichkeit der Sele glaubt.
Aber wie und wo war Jesu Geist, oder besser
Jesus selbst, in seiner göttlich- menschlichen Per-
sönlichkeit lebendig und thätig, wie und wo äus-
serte er seine Lebenskraft, an welchem Ort, und
auf welche Art brachte er bestimmte Würkungen
hervor, während der, nach unserm Maasstab
kurzen, nach tieferem Maasstab vielleicht langen
Zeit, daß sein Leib todt war, daß seine abgelegte
Erdenhülle in der Erde ruhte? Schwebte etwa
sein Geist um seine Grabstäte herum, schwebte
er auf lauen Abendwinden um seine zärtlichen
Freunde, oder im strengen Morgenwinde um die

har-

Unſer Herr,
Menſchwerdung oder nach der Himmelfahrt Jeſu
mit ihm und von ihm im Himmel geſchehen iſt,
denn ſie iſt nur Geſchichte des göttlichen Men-
ſchenlebens
Jeſu, oder des Lebens, welches der
Sohn Gottes auf Erden geführt hat: aber die
evangeliſche Lehre gedenkt ihrer, und ſie durfte
auch davon nicht ſchweigen, ſo wenig wie davon,
daß der menſchgewordne Heiland der eingebohrne
Sohn Gottes, das Ebenbild ſeines Weſens, der
Abglanz ſeiner Herrlichkeit, und daß der, gen
Himmel gefahrne, Erldſer vorher im Himmel, ia
eher denn der Himmel geweſen, und der Schöpfer
auch des Himmels ſei.

Jeſus war, das giebt ſchon die Natur der
Sache, und die Göttlichkeit ſeiner Natur, auch
in ſeinem Tode lebendig. Todt war nur ſein Kör-
per, lebendig blieb ſein Geiſt. Im Grabe ruhte
nur ſein Leichnam, auſſer dem Grabe war ſeine
allerthätigſte Sele geſchäftig. Das muß doch
zugeben, wer die Unſterblichkeit der Sele glaubt.
Aber wie und wo war Jeſu Geiſt, oder beſſer
Jeſus ſelbſt, in ſeiner göttlich- menſchlichen Per-
ſönlichkeit lebendig und thätig, wie und wo äuſ-
ſerte er ſeine Lebenskraft, an welchem Ort, und
auf welche Art brachte er beſtimmte Würkungen
hervor, während der, nach unſerm Maasſtab
kurzen, nach tieferem Maasſtab vielleicht langen
Zeit, daß ſein Leib todt war, daß ſeine abgelegte
Erdenhülle in der Erde ruhte? Schwebte etwa
ſein Geiſt um ſeine Grabſtäte herum, ſchwebte
er auf lauen Abendwinden um ſeine zärtlichen
Freunde, oder im ſtrengen Morgenwinde um die

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[122/0136] Unſer Herr, Menſchwerdung oder nach der Himmelfahrt Jeſu mit ihm und von ihm im Himmel geſchehen iſt, denn ſie iſt nur Geſchichte des göttlichen Men- ſchenlebens Jeſu, oder des Lebens, welches der Sohn Gottes auf Erden geführt hat: aber die evangeliſche Lehre gedenkt ihrer, und ſie durfte auch davon nicht ſchweigen, ſo wenig wie davon, daß der menſchgewordne Heiland der eingebohrne Sohn Gottes, das Ebenbild ſeines Weſens, der Abglanz ſeiner Herrlichkeit, und daß der, gen Himmel gefahrne, Erldſer vorher im Himmel, ia eher denn der Himmel geweſen, und der Schöpfer auch des Himmels ſei. Jeſus war, das giebt ſchon die Natur der Sache, und die Göttlichkeit ſeiner Natur, auch in ſeinem Tode lebendig. Todt war nur ſein Kör- per, lebendig blieb ſein Geiſt. Im Grabe ruhte nur ſein Leichnam, auſſer dem Grabe war ſeine allerthätigſte Sele geſchäftig. Das muß doch zugeben, wer die Unſterblichkeit der Sele glaubt. Aber wie und wo war Jeſu Geiſt, oder beſſer Jeſus ſelbſt, in ſeiner göttlich- menſchlichen Per- ſönlichkeit lebendig und thätig, wie und wo äuſ- ſerte er ſeine Lebenskraft, an welchem Ort, und auf welche Art brachte er beſtimmte Würkungen hervor, während der, nach unſerm Maasſtab kurzen, nach tieferem Maasſtab vielleicht langen Zeit, daß ſein Leib todt war, daß ſeine abgelegte Erdenhülle in der Erde ruhte? Schwebte etwa ſein Geiſt um ſeine Grabſtäte herum, ſchwebte er auf lauen Abendwinden um ſeine zärtlichen Freunde, oder im ſtrengen Morgenwinde um die har-

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Zitationshilfe: Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/136>, abgerufen am 15.11.2024.