Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.Unser Herr, Im Dunkeln kam nun auch der alte, ehrliche und
Unſer Herr, Im Dunkeln kam nun auch der alte, ehrliche und
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0132" n="118"/> <fw place="top" type="header">Unſer Herr,</fw><lb/> <p>Im Dunkeln kam nun auch der alte, ehrliche<lb/> Nikodemus in dem Garten Joſephs, vermuthlich<lb/> auch ſeines Freundes, an. Im Dunkeln war er<lb/> einſt bei Jeſu geweſen, und ein dunkles Geſpräch<lb/> hatte Jeſus mit ihm geführt. Doch war wohl<lb/> ſchon damahls ein Lichtſtrahl in ſeine reine Sele<lb/> gefallen, der von Zeit zu Zeit ſeinen forſchen-<lb/> den Geiſt immer mehr erhellt, ſein redliches<lb/> Herz immer mehr erwärmt hatte, der vielleicht<lb/> bei dem Tode Jeſu und den merkwürdigen Um-<lb/> ſtänden deſſelben bei ihm gegen Finſternis an-<lb/> kämpfte, und ihm durch ein Gewölk von Zwei-<lb/> feln, dann ſchwächer, dann ſtärker, herdurchſchien.<lb/> Auch er kam mit Specereien nach Joſephs Gar-<lb/> ten, ſo wie er gehört, vielleicht auch geſehn hatte,<lb/> daß der Leichnam Jeſu, den er wenigſtens für<lb/> nicht ganz ſchuldig, für nicht entehrt hielt, dort-<lb/> hin gebracht worden ſei, und er trug ſie in Menge.<lb/> Wie gewis <hi rendition="#fr">wallfahrtete</hi> der alte Mann izt zu<lb/> dem Grabe des Herrn; wie gewis waren ſeine<lb/> Gedanken auf dem Wege, auch wenn ſie ſich<lb/> durchkreuzten, auch wenn er ſie nicht zu ſammeln,<lb/> vielweniger auszudrükken vermogte, wie gewis<lb/> ſeine Empfindungen, auch wenn er ihrer nicht<lb/> Herr ward, auch wenn eine die andre verfolgte,<lb/> wie gewis waren ſie alle — Ein Gebet! Welch<lb/> eine Geſellſchaft um das Grab Jeſu her! Wie<lb/> fanden ſich hier die guten Selen ſo unverabredet<lb/> zuſammen, unter nächtlichem Himmel und bei<lb/> dem feierlichſten Schweigen der Natur! Und wie<lb/> beredt war das Stillſchweigen, womit ſie kamen<lb/> und gingen, wie ſanft der Ausdruk des Kummers<lb/> <fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [118/0132]
Unſer Herr,
Im Dunkeln kam nun auch der alte, ehrliche
Nikodemus in dem Garten Joſephs, vermuthlich
auch ſeines Freundes, an. Im Dunkeln war er
einſt bei Jeſu geweſen, und ein dunkles Geſpräch
hatte Jeſus mit ihm geführt. Doch war wohl
ſchon damahls ein Lichtſtrahl in ſeine reine Sele
gefallen, der von Zeit zu Zeit ſeinen forſchen-
den Geiſt immer mehr erhellt, ſein redliches
Herz immer mehr erwärmt hatte, der vielleicht
bei dem Tode Jeſu und den merkwürdigen Um-
ſtänden deſſelben bei ihm gegen Finſternis an-
kämpfte, und ihm durch ein Gewölk von Zwei-
feln, dann ſchwächer, dann ſtärker, herdurchſchien.
Auch er kam mit Specereien nach Joſephs Gar-
ten, ſo wie er gehört, vielleicht auch geſehn hatte,
daß der Leichnam Jeſu, den er wenigſtens für
nicht ganz ſchuldig, für nicht entehrt hielt, dort-
hin gebracht worden ſei, und er trug ſie in Menge.
Wie gewis wallfahrtete der alte Mann izt zu
dem Grabe des Herrn; wie gewis waren ſeine
Gedanken auf dem Wege, auch wenn ſie ſich
durchkreuzten, auch wenn er ſie nicht zu ſammeln,
vielweniger auszudrükken vermogte, wie gewis
ſeine Empfindungen, auch wenn er ihrer nicht
Herr ward, auch wenn eine die andre verfolgte,
wie gewis waren ſie alle — Ein Gebet! Welch
eine Geſellſchaft um das Grab Jeſu her! Wie
fanden ſich hier die guten Selen ſo unverabredet
zuſammen, unter nächtlichem Himmel und bei
dem feierlichſten Schweigen der Natur! Und wie
beredt war das Stillſchweigen, womit ſie kamen
und gingen, wie ſanft der Ausdruk des Kummers
und
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