Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.Unser Herr, Ausruf das Volk habe zum Stillschweigenbringen, und bei dieser, nur erst erfolgten allge- meinen, Stille zum Mitleiden und zum Wider- ruf ihres Bluturtheils bewegen wollen. Be- wegt wurden würklich die Juden, aber nicht zum Mitleiden, sondern zur gräßlichen Wuth. So wie sie nur Jesum sahn, fingen sie aus einem Halse an zu schreien: kreuzige! kreuzige! Selbst der Statthalter konnte vor diesem Geschrei nicht zu Wort kommen; mehr, als er schon gesagt hatte, wollte man von ihm nicht hören, und mehr konn- te er freilich unter diesen Umständen nicht sagen. Vielleicht, und daran dachte doch wohl izt Pilatus nicht, vielleicht reizte der Aufzug, in welchem Je- sus hier erschien, die Wuth des Volks noch mehr. Es schien den Juden vielleicht eine Verspottung zu sein, die, wenn sie auch zunächst den Verur- theilten traf, doch auf den ganzen iüdischen Staat, und selbst auf ihre Religion, auf ihren Messias- glauben, zurükfiel. Darum haßten sie izt Jesum in dieser Gestalt noch mehr, und eben so haß- ten sie den Pilatus, und dieser, schon längst wider ihn heimlich genährte, Haß verstärkte wieder den Haß gegen Jesum, da Pilatus, statt Jesum, dem Vortrage des geistlichen Raths, und dem Verlan- gen des Volks gemäs, zu richten, ihn in Schuz zu nehmen, und Priester und Volk in Schimpf und Ernst abzuweisen schien. Das, so ergrimmte, Volk hatte endlich sich ausge- des
Unſer Herr, Ausruf das Volk habe zum Stillſchweigenbringen, und bei dieſer, nur erſt erfolgten allge- meinen, Stille zum Mitleiden und zum Wider- ruf ihres Bluturtheils bewegen wollen. Be- wegt wurden würklich die Juden, aber nicht zum Mitleiden, ſondern zur gräßlichen Wuth. So wie ſie nur Jeſum ſahn, fingen ſie aus einem Halſe an zu ſchreien: kreuzige! kreuzige! Selbſt der Statthalter konnte vor dieſem Geſchrei nicht zu Wort kommen; mehr, als er ſchon geſagt hatte, wollte man von ihm nicht hören, und mehr konn- te er freilich unter dieſen Umſtänden nicht ſagen. Vielleicht, und daran dachte doch wohl izt Pilatus nicht, vielleicht reizte der Aufzug, in welchem Je- ſus hier erſchien, die Wuth des Volks noch mehr. Es ſchien den Juden vielleicht eine Verſpottung zu ſein, die, wenn ſie auch zunächſt den Verur- theilten traf, doch auf den ganzen iüdiſchen Staat, und ſelbſt auf ihre Religion, auf ihren Meſſias- glauben, zurükfiel. Darum haßten ſie izt Jeſum in dieſer Geſtalt noch mehr, und eben ſo haß- ten ſie den Pilatus, und dieſer, ſchon längſt wider ihn heimlich genährte, Haß verſtärkte wieder den Haß gegen Jeſum, da Pilatus, ſtatt Jeſum, dem Vortrage des geiſtlichen Raths, und dem Verlan- gen des Volks gemäs, zu richten, ihn in Schuz zu nehmen, und Prieſter und Volk in Schimpf und Ernſt abzuweiſen ſchien. Das, ſo ergrimmte, Volk hatte endlich ſich ausge- des
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Unſer Herr,
Ausruf das Volk habe zum Stillſchweigen
bringen, und bei dieſer, nur erſt erfolgten allge-
meinen, Stille zum Mitleiden und zum Wider-
ruf ihres Bluturtheils bewegen wollen. Be-
wegt wurden würklich die Juden, aber nicht
zum Mitleiden, ſondern zur gräßlichen Wuth. So
wie ſie nur Jeſum ſahn, fingen ſie aus einem Halſe
an zu ſchreien: kreuzige! kreuzige! Selbſt der
Statthalter konnte vor dieſem Geſchrei nicht zu
Wort kommen; mehr, als er ſchon geſagt hatte,
wollte man von ihm nicht hören, und mehr konn-
te er freilich unter dieſen Umſtänden nicht ſagen.
Vielleicht, und daran dachte doch wohl izt Pilatus
nicht, vielleicht reizte der Aufzug, in welchem Je-
ſus hier erſchien, die Wuth des Volks noch mehr.
Es ſchien den Juden vielleicht eine Verſpottung
zu ſein, die, wenn ſie auch zunächſt den Verur-
theilten traf, doch auf den ganzen iüdiſchen Staat,
und ſelbſt auf ihre Religion, auf ihren Meſſias-
glauben, zurükfiel. Darum haßten ſie izt Jeſum
in dieſer Geſtalt noch mehr, und eben ſo haß-
ten ſie den Pilatus, und dieſer, ſchon längſt wider
ihn heimlich genährte, Haß verſtärkte wieder den
Haß gegen Jeſum, da Pilatus, ſtatt Jeſum, dem
Vortrage des geiſtlichen Raths, und dem Verlan-
gen des Volks gemäs, zu richten, ihn in Schuz zu
nehmen, und Prieſter und Volk in Schimpf und
Ernſt abzuweiſen ſchien.
Das, ſo ergrimmte, Volk hatte endlich ſich ausge-
ſchrien, und mußte nun wieder die Entſcheidung des
Statthalters abwarten. Dieſe klang würklich etwas
ſpöttiſch, allein man ſieht, es war nicht bloßer Spott,
ſonderner war mit ſehr ernſthaftem Unwillen unter-
miſcht. Doch lag bei dieſem natürlichen Wahrheitsſinn
des
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