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Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.

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Unser Herr vor Pilatus Richterstuhl.
zer, mit einem, vor Jesu sich senkenden, dann zu-
trauens- und ehrfurchtsvoll zu ihm hinauf gerich-
teten, Blik, mit merklicher Erhebung des Tons, mit
Nachdruk in iedem, fast einzeln ausgesprochnen,
Worte: o -- was ist -- Wahrheit!!

Nach diesem Gespräch wandte nun Pilatus
alles an, Jesum ganz ungestraft loszulassen, aber
alles vergeblich. Er vertheidigte ihn, statt ihn zu
verurtheilen; er stellte ihn mit dem scheuslichsten
Verbrecher zusammen, um so seine Loslassung zu
erzwingen; er versuchte alles, um eine günstige
Stille, nur die Stille einer Minute bei dem, durch
Priesterhaß geleiteten, Volke für ihn zu gewinnen:
alles vergeblich! Das stürmende Geschrei nimmt
überhand; Pilatus sieht sich selbst in Gefahr, und
sein Mund spricht das Urtheil über Jesum, was
sein Herz verwirft.

Ehre, Verehrer Jesu, das Andenken des
Mannes, der, wie schwach und sinnlich er auch
sonst war, doch so die Wahrheit und Unschuld,
der als Heide, so den vorgeblichen Judenkönig
ehrte und wider dessen eignes Volk ihn so
lange schüzte!

Pilatus sah von seinem Thron
herab einst dich, des Menschen Sohn,
und fand in deiner Niedrigkeit dich gros
und sprach dich frei von Schuld, doch nicht von Strafe los!
Wenn einst Pilatus wird vor deinem Throne stehn,
wie wird er gros in seiner Niedrigkeit dich sehn!
Und wo ist Ausdruk dann für seine Reu,
sprichst du ihn nicht von Schuld, und doch von Strafe frei.


Unſer Herr vor Pilatus Richterſtuhl.
zer, mit einem, vor Jeſu ſich ſenkenden, dann zu-
trauens- und ehrfurchtsvoll zu ihm hinauf gerich-
teten, Blik, mit merklicher Erhebung des Tons, mit
Nachdruk in iedem, faſt einzeln ausgeſprochnen,
Worte: o — was iſt — Wahrheit!!

Nach dieſem Geſpräch wandte nun Pilatus
alles an, Jeſum ganz ungeſtraft loszulaſſen, aber
alles vergeblich. Er vertheidigte ihn, ſtatt ihn zu
verurtheilen; er ſtellte ihn mit dem ſcheuslichſten
Verbrecher zuſammen, um ſo ſeine Loslaſſung zu
erzwingen; er verſuchte alles, um eine günſtige
Stille, nur die Stille einer Minute bei dem, durch
Prieſterhaß geleiteten, Volke für ihn zu gewinnen:
alles vergeblich! Das ſtürmende Geſchrei nimmt
überhand; Pilatus ſieht ſich ſelbſt in Gefahr, und
ſein Mund ſpricht das Urtheil über Jeſum, was
ſein Herz verwirft.

Ehre, Verehrer Jeſu, das Andenken des
Mannes, der, wie ſchwach und ſinnlich er auch
ſonſt war, doch ſo die Wahrheit und Unſchuld,
der als Heide, ſo den vorgeblichen Judenkönig
ehrte und wider deſſen eignes Volk ihn ſo
lange ſchüzte!

Pilatus ſah von ſeinem Thron
herab einſt dich, des Menſchen Sohn,
und fand in deiner Niedrigkeit dich gros
und ſprach dich frei von Schuld, doch nicht von Strafe los!
Wenn einſt Pilatus wird vor deinem Throne ſtehn,
wie wird er gros in ſeiner Niedrigkeit dich ſehn!
Und wo iſt Ausdruk dann für ſeine Reu,
ſprichſt du ihn nicht von Schuld, und doch von Strafe frei.


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[96/0110] Unſer Herr vor Pilatus Richterſtuhl. zer, mit einem, vor Jeſu ſich ſenkenden, dann zu- trauens- und ehrfurchtsvoll zu ihm hinauf gerich- teten, Blik, mit merklicher Erhebung des Tons, mit Nachdruk in iedem, faſt einzeln ausgeſprochnen, Worte: o — was iſt — Wahrheit!! Nach dieſem Geſpräch wandte nun Pilatus alles an, Jeſum ganz ungeſtraft loszulaſſen, aber alles vergeblich. Er vertheidigte ihn, ſtatt ihn zu verurtheilen; er ſtellte ihn mit dem ſcheuslichſten Verbrecher zuſammen, um ſo ſeine Loslaſſung zu erzwingen; er verſuchte alles, um eine günſtige Stille, nur die Stille einer Minute bei dem, durch Prieſterhaß geleiteten, Volke für ihn zu gewinnen: alles vergeblich! Das ſtürmende Geſchrei nimmt überhand; Pilatus ſieht ſich ſelbſt in Gefahr, und ſein Mund ſpricht das Urtheil über Jeſum, was ſein Herz verwirft. Ehre, Verehrer Jeſu, das Andenken des Mannes, der, wie ſchwach und ſinnlich er auch ſonſt war, doch ſo die Wahrheit und Unſchuld, der als Heide, ſo den vorgeblichen Judenkönig ehrte und wider deſſen eignes Volk ihn ſo lange ſchüzte! Pilatus ſah von ſeinem Thron herab einſt dich, des Menſchen Sohn, und fand in deiner Niedrigkeit dich gros und ſprach dich frei von Schuld, doch nicht von Strafe los! Wenn einſt Pilatus wird vor deinem Throne ſtehn, wie wird er gros in ſeiner Niedrigkeit dich ſehn! Und wo iſt Ausdruk dann für ſeine Reu, ſprichſt du ihn nicht von Schuld, und doch von Strafe frei.

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Zitationshilfe: Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/110>, abgerufen am 27.11.2024.