Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
ters wiederholet: so müsse sich endlich auch das vorige
Gefühl ihres Werths verlieren, wofern es nicht von Zeit
zu Zeit durch andere Ursachen erneuert wird. Diesen
Erfolg wird man dennoch sehr selten antreffen, wie man
bey den Alten sieht, die nach Ruhm und Gelde geizen,
und oft genug von ihrer Vernunft erinnert sind, daß sie
keinen Gebrauch davon machen können. Die Tugend
ist ihr eigener Lohn, weil sie unaufhörlich im Jnnern
genutzet werden kann. Aber ob sie nach den stoischen
Grundsätzen ihr genugsamer Lohn sey, ob sie es bey allen
Menschen seyn könne, ist eine andere Frage? Sollte
man wohl in allen Jndividuen ein solches Verhältniß
der leidenden und thätigen Vermögen, der niedern und
der höhern Kräfte, annehmen dürfen, als dazu erfodert
wird, wenn das innere Gefühl aus der Stärke und
Richtigkeit der Neigungen und aus der Selbstmacht der
Seele über sich, stärkere und lebhaftere Vergnügungen
gewähren soll, als die leidentlichen Eindrücke auf die
Sinne, und als die Bilder der Einbildungskraft aus
äußern Empfindungen? Die stoische Moral war auch
von dieser Seite nur eine Moral für sehr wenige. Bey
den meisten Menschen ist es durchaus nöthig, daß eine
Erwartung künftiger sinnlicher Freuden, als das Ge-
folge der Tugend, hinzukomme, wenn die letztere ihre
Achtung behalten soll. Wo bliebe diese letztere, wenn
die Tugend nicht die Verheißungen der Zukunft bey sich
führte? Aber der Mann von edler und starker Geistes-
thätigkeit vertauschet demnach seine Tugend, Recht-
schaffenheit und Weisheit mit keinem Paradies. Und
dieß darf keine Wirkung von überspannten Begriffen
seyn. Er kann nach der ruhigsten Abwägung seiner
Gefühle so urtheilen. Jst er völlig überzeugt, sie sey
nach dem Tode unnütz, so könnte es vielleicht vernünf-
tig seyn, um der Verlängerung des Lebens willen, von

ihr

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ters wiederholet: ſo muͤſſe ſich endlich auch das vorige
Gefuͤhl ihres Werths verlieren, wofern es nicht von Zeit
zu Zeit durch andere Urſachen erneuert wird. Dieſen
Erfolg wird man dennoch ſehr ſelten antreffen, wie man
bey den Alten ſieht, die nach Ruhm und Gelde geizen,
und oft genug von ihrer Vernunft erinnert ſind, daß ſie
keinen Gebrauch davon machen koͤnnen. Die Tugend
iſt ihr eigener Lohn, weil ſie unaufhoͤrlich im Jnnern
genutzet werden kann. Aber ob ſie nach den ſtoiſchen
Grundſaͤtzen ihr genugſamer Lohn ſey, ob ſie es bey allen
Menſchen ſeyn koͤnne, iſt eine andere Frage? Sollte
man wohl in allen Jndividuen ein ſolches Verhaͤltniß
der leidenden und thaͤtigen Vermoͤgen, der niedern und
der hoͤhern Kraͤfte, annehmen duͤrfen, als dazu erfodert
wird, wenn das innere Gefuͤhl aus der Staͤrke und
Richtigkeit der Neigungen und aus der Selbſtmacht der
Seele uͤber ſich, ſtaͤrkere und lebhaftere Vergnuͤgungen
gewaͤhren ſoll, als die leidentlichen Eindruͤcke auf die
Sinne, und als die Bilder der Einbildungskraft aus
aͤußern Empfindungen? Die ſtoiſche Moral war auch
von dieſer Seite nur eine Moral fuͤr ſehr wenige. Bey
den meiſten Menſchen iſt es durchaus noͤthig, daß eine
Erwartung kuͤnftiger ſinnlicher Freuden, als das Ge-
folge der Tugend, hinzukomme, wenn die letztere ihre
Achtung behalten ſoll. Wo bliebe dieſe letztere, wenn
die Tugend nicht die Verheißungen der Zukunft bey ſich
fuͤhrte? Aber der Mann von edler und ſtarker Geiſtes-
thaͤtigkeit vertauſchet demnach ſeine Tugend, Recht-
ſchaffenheit und Weisheit mit keinem Paradies. Und
dieß darf keine Wirkung von uͤberſpannten Begriffen
ſeyn. Er kann nach der ruhigſten Abwaͤgung ſeiner
Gefuͤhle ſo urtheilen. Jſt er voͤllig uͤberzeugt, ſie ſey
nach dem Tode unnuͤtz, ſo koͤnnte es vielleicht vernuͤnf-
tig ſeyn, um der Verlaͤngerung des Lebens willen, von

ihr
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0862" n="832"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi> Ver&#x017F;. Ueber die Perfektibilita&#x0364;t</hi></fw><lb/>
ters wiederholet: &#x017F;o mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e &#x017F;ich endlich auch das vorige<lb/>
Gefu&#x0364;hl ihres Werths verlieren, wofern es nicht von Zeit<lb/>
zu Zeit durch andere Ur&#x017F;achen erneuert wird. Die&#x017F;en<lb/>
Erfolg wird man dennoch &#x017F;ehr &#x017F;elten antreffen, wie man<lb/>
bey den Alten &#x017F;ieht, die nach Ruhm und Gelde geizen,<lb/>
und oft genug von ihrer Vernunft erinnert &#x017F;ind, daß &#x017F;ie<lb/>
keinen Gebrauch davon machen ko&#x0364;nnen. Die Tugend<lb/>
i&#x017F;t ihr eigener Lohn, weil &#x017F;ie unaufho&#x0364;rlich im Jnnern<lb/>
genutzet werden kann. Aber ob &#x017F;ie nach den &#x017F;toi&#x017F;chen<lb/>
Grund&#x017F;a&#x0364;tzen ihr genug&#x017F;amer Lohn &#x017F;ey, ob &#x017F;ie es bey <hi rendition="#fr">allen</hi><lb/>
Men&#x017F;chen &#x017F;eyn <hi rendition="#fr">ko&#x0364;nne,</hi> i&#x017F;t eine andere Frage? Sollte<lb/>
man wohl in allen Jndividuen ein &#x017F;olches Verha&#x0364;ltniß<lb/>
der leidenden und tha&#x0364;tigen Vermo&#x0364;gen, der niedern und<lb/>
der ho&#x0364;hern Kra&#x0364;fte, annehmen du&#x0364;rfen, als dazu erfodert<lb/>
wird, wenn das innere Gefu&#x0364;hl aus der Sta&#x0364;rke und<lb/>
Richtigkeit der Neigungen und aus der Selb&#x017F;tmacht der<lb/>
Seele u&#x0364;ber &#x017F;ich, &#x017F;ta&#x0364;rkere und lebhaftere Vergnu&#x0364;gungen<lb/>
gewa&#x0364;hren &#x017F;oll, als die leidentlichen Eindru&#x0364;cke auf die<lb/>
Sinne, und als die Bilder der Einbildungskraft aus<lb/>
a&#x0364;ußern Empfindungen? Die &#x017F;toi&#x017F;che Moral war auch<lb/>
von die&#x017F;er Seite nur eine Moral fu&#x0364;r &#x017F;ehr wenige. Bey<lb/>
den mei&#x017F;ten Men&#x017F;chen i&#x017F;t es durchaus no&#x0364;thig, daß eine<lb/>
Erwartung ku&#x0364;nftiger &#x017F;innlicher Freuden, als das Ge-<lb/>
folge der Tugend, hinzukomme, wenn die letztere ihre<lb/>
Achtung behalten &#x017F;oll. Wo bliebe die&#x017F;e letztere, wenn<lb/>
die Tugend nicht die Verheißungen der Zukunft bey &#x017F;ich<lb/>
fu&#x0364;hrte? Aber der Mann von edler und &#x017F;tarker Gei&#x017F;tes-<lb/>
tha&#x0364;tigkeit vertau&#x017F;chet demnach &#x017F;eine Tugend, Recht-<lb/>
&#x017F;chaffenheit und Weisheit mit keinem Paradies. Und<lb/>
dieß darf keine Wirkung von u&#x0364;ber&#x017F;pannten Begriffen<lb/>
&#x017F;eyn. Er kann nach der ruhig&#x017F;ten Abwa&#x0364;gung &#x017F;einer<lb/>
Gefu&#x0364;hle &#x017F;o urtheilen. J&#x017F;t er vo&#x0364;llig u&#x0364;berzeugt, &#x017F;ie &#x017F;ey<lb/>
nach dem Tode unnu&#x0364;tz, &#x017F;o ko&#x0364;nnte es vielleicht vernu&#x0364;nf-<lb/>
tig &#x017F;eyn, um der Verla&#x0364;ngerung des Lebens willen, von<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ihr</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[832/0862] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt ters wiederholet: ſo muͤſſe ſich endlich auch das vorige Gefuͤhl ihres Werths verlieren, wofern es nicht von Zeit zu Zeit durch andere Urſachen erneuert wird. Dieſen Erfolg wird man dennoch ſehr ſelten antreffen, wie man bey den Alten ſieht, die nach Ruhm und Gelde geizen, und oft genug von ihrer Vernunft erinnert ſind, daß ſie keinen Gebrauch davon machen koͤnnen. Die Tugend iſt ihr eigener Lohn, weil ſie unaufhoͤrlich im Jnnern genutzet werden kann. Aber ob ſie nach den ſtoiſchen Grundſaͤtzen ihr genugſamer Lohn ſey, ob ſie es bey allen Menſchen ſeyn koͤnne, iſt eine andere Frage? Sollte man wohl in allen Jndividuen ein ſolches Verhaͤltniß der leidenden und thaͤtigen Vermoͤgen, der niedern und der hoͤhern Kraͤfte, annehmen duͤrfen, als dazu erfodert wird, wenn das innere Gefuͤhl aus der Staͤrke und Richtigkeit der Neigungen und aus der Selbſtmacht der Seele uͤber ſich, ſtaͤrkere und lebhaftere Vergnuͤgungen gewaͤhren ſoll, als die leidentlichen Eindruͤcke auf die Sinne, und als die Bilder der Einbildungskraft aus aͤußern Empfindungen? Die ſtoiſche Moral war auch von dieſer Seite nur eine Moral fuͤr ſehr wenige. Bey den meiſten Menſchen iſt es durchaus noͤthig, daß eine Erwartung kuͤnftiger ſinnlicher Freuden, als das Ge- folge der Tugend, hinzukomme, wenn die letztere ihre Achtung behalten ſoll. Wo bliebe dieſe letztere, wenn die Tugend nicht die Verheißungen der Zukunft bey ſich fuͤhrte? Aber der Mann von edler und ſtarker Geiſtes- thaͤtigkeit vertauſchet demnach ſeine Tugend, Recht- ſchaffenheit und Weisheit mit keinem Paradies. Und dieß darf keine Wirkung von uͤberſpannten Begriffen ſeyn. Er kann nach der ruhigſten Abwaͤgung ſeiner Gefuͤhle ſo urtheilen. Jſt er voͤllig uͤberzeugt, ſie ſey nach dem Tode unnuͤtz, ſo koͤnnte es vielleicht vernuͤnf- tig ſeyn, um der Verlaͤngerung des Lebens willen, von ihr

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/862
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 832. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/862>, abgerufen am 23.11.2024.