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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
ten. Nach der ersten Beziehung zu urtheilen, würde
ein ununterbrochener Fortgang in der innern Vervoll-
kommnung den Menschen nicht glücklich machen, so wie
noch weniger umgekehrt ein ununterbrochenes Vergnü-
gen ihn vollkommener macht. Wenn die Vervollkomm-
nung des Menschen als die vornehmste Absicht bey
ihm angenommen wird, (denn auch der Genuß kann
nicht ausgeschlossen werden,) so ist das Unglück, oder
überwiegender Schmerz, nicht blos des Leibes sondern
auch der Seele, ungemein nützlich. Es strenget die
Kräfte außerordentlich an, da sie gegen Hindernisse
kämpfen, und entwickelt sie, wenn sie nur nicht ganz un-
terliegen, das ist, wenn der Mensch nur nicht zur
Verzweifelung gebracht wird. Dieser Fall ist ausge-
nommen. Und dennoch, wenn wir weiter zurückgehen
zu den Folgen der Anstrengung, die in der unkörper-
lichen Seele
bleiben, und diese von denen unterschei-
den, welche in dem Menschen entstehen: so kann auch
die unter dem Leiden erliegende und verzweifelnde Seele,
nachdem ihre ganze Kraft erschöpfet oder zersprenget ist,
von dieser sie ganz durchdringenden Erschütterung reelle
Folgen, und wahre Erhöhungen der Vermögen, em-
pfangen haben, die aus ihrer Grundkraft nie sich verlie-
ren. Denn das eine Geisteskraft sich in dem Geiste
selbst durch Thätigkeit verzehren und auflösen könne, wie
das Schicksal der organischen Kräfte im Körper ist,
wird, das mindeste zu sagen, sehr unwahrscheinlich,
wenn man darauf zurücksieht, was es für eine Beschaf-
fenheit mit der Schwächung der Seelenkraft habe, die
aus Ueberspannung entsteht. *)

Diese Beziehung der Vervollkommnung auf das
Wohl des Menschen macht es so oft nothwendig, daß
Schmerz gebrauchet werden muß um ihm wohl zu thun.
Bey Beurtheilung der Vorsehung darf dieß nicht ver-

gessen
*) Erster Abschnitt. d. V. II. 7.
F f f 2

und Entwickelung des Menſchen.
ten. Nach der erſten Beziehung zu urtheilen, wuͤrde
ein ununterbrochener Fortgang in der innern Vervoll-
kommnung den Menſchen nicht gluͤcklich machen, ſo wie
noch weniger umgekehrt ein ununterbrochenes Vergnuͤ-
gen ihn vollkommener macht. Wenn die Vervollkomm-
nung des Menſchen als die vornehmſte Abſicht bey
ihm angenommen wird, (denn auch der Genuß kann
nicht ausgeſchloſſen werden,) ſo iſt das Ungluͤck, oder
uͤberwiegender Schmerz, nicht blos des Leibes ſondern
auch der Seele, ungemein nuͤtzlich. Es ſtrenget die
Kraͤfte außerordentlich an, da ſie gegen Hinderniſſe
kaͤmpfen, und entwickelt ſie, wenn ſie nur nicht ganz un-
terliegen, das iſt, wenn der Menſch nur nicht zur
Verzweifelung gebracht wird. Dieſer Fall iſt ausge-
nommen. Und dennoch, wenn wir weiter zuruͤckgehen
zu den Folgen der Anſtrengung, die in der unkoͤrper-
lichen Seele
bleiben, und dieſe von denen unterſchei-
den, welche in dem Menſchen entſtehen: ſo kann auch
die unter dem Leiden erliegende und verzweifelnde Seele,
nachdem ihre ganze Kraft erſchoͤpfet oder zerſprenget iſt,
von dieſer ſie ganz durchdringenden Erſchuͤtterung reelle
Folgen, und wahre Erhoͤhungen der Vermoͤgen, em-
pfangen haben, die aus ihrer Grundkraft nie ſich verlie-
ren. Denn das eine Geiſteskraft ſich in dem Geiſte
ſelbſt durch Thaͤtigkeit verzehren und aufloͤſen koͤnne, wie
das Schickſal der organiſchen Kraͤfte im Koͤrper iſt,
wird, das mindeſte zu ſagen, ſehr unwahrſcheinlich,
wenn man darauf zuruͤckſieht, was es fuͤr eine Beſchaf-
fenheit mit der Schwaͤchung der Seelenkraft habe, die
aus Ueberſpannung entſteht. *)

Dieſe Beziehung der Vervollkommnung auf das
Wohl des Menſchen macht es ſo oft nothwendig, daß
Schmerz gebrauchet werden muß um ihm wohl zu thun.
Bey Beurtheilung der Vorſehung darf dieß nicht ver-

geſſen
*) Erſter Abſchnitt. d. V. II. 7.
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[819/0849] und Entwickelung des Menſchen. ten. Nach der erſten Beziehung zu urtheilen, wuͤrde ein ununterbrochener Fortgang in der innern Vervoll- kommnung den Menſchen nicht gluͤcklich machen, ſo wie noch weniger umgekehrt ein ununterbrochenes Vergnuͤ- gen ihn vollkommener macht. Wenn die Vervollkomm- nung des Menſchen als die vornehmſte Abſicht bey ihm angenommen wird, (denn auch der Genuß kann nicht ausgeſchloſſen werden,) ſo iſt das Ungluͤck, oder uͤberwiegender Schmerz, nicht blos des Leibes ſondern auch der Seele, ungemein nuͤtzlich. Es ſtrenget die Kraͤfte außerordentlich an, da ſie gegen Hinderniſſe kaͤmpfen, und entwickelt ſie, wenn ſie nur nicht ganz un- terliegen, das iſt, wenn der Menſch nur nicht zur Verzweifelung gebracht wird. Dieſer Fall iſt ausge- nommen. Und dennoch, wenn wir weiter zuruͤckgehen zu den Folgen der Anſtrengung, die in der unkoͤrper- lichen Seele bleiben, und dieſe von denen unterſchei- den, welche in dem Menſchen entſtehen: ſo kann auch die unter dem Leiden erliegende und verzweifelnde Seele, nachdem ihre ganze Kraft erſchoͤpfet oder zerſprenget iſt, von dieſer ſie ganz durchdringenden Erſchuͤtterung reelle Folgen, und wahre Erhoͤhungen der Vermoͤgen, em- pfangen haben, die aus ihrer Grundkraft nie ſich verlie- ren. Denn das eine Geiſteskraft ſich in dem Geiſte ſelbſt durch Thaͤtigkeit verzehren und aufloͤſen koͤnne, wie das Schickſal der organiſchen Kraͤfte im Koͤrper iſt, wird, das mindeſte zu ſagen, ſehr unwahrſcheinlich, wenn man darauf zuruͤckſieht, was es fuͤr eine Beſchaf- fenheit mit der Schwaͤchung der Seelenkraft habe, die aus Ueberſpannung entſteht. *) Dieſe Beziehung der Vervollkommnung auf das Wohl des Menſchen macht es ſo oft nothwendig, daß Schmerz gebrauchet werden muß um ihm wohl zu thun. Bey Beurtheilung der Vorſehung darf dieß nicht ver- geſſen *) Erſter Abſchnitt. d. V. II. 7. F f f 2

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 819. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/849>, abgerufen am 22.11.2024.