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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
Gesinnungen, ist eine natürliche Quelle der Hoffnung;
und das Gefühl von Schwäche erzeuget Furcht und
Bosheit. Furcht und Hoffnung wirken wiederum auf
die Vermögen zurück, und machen sie lebendig. Aber
wie viel hängt nicht ab von den zufälligen Kenntnissen,
Ueberredungen, Einsichten, die durch eine glückliche An-
führung eingeflößet sind, und in einem andern Verhält-
nisse ihre seligen oder unseligen Wirkungen äußern, als
worinn die Verstandeskräfte stehen, bey dem Glauben-
den, dem Zweifler und dem, der sich von dem Gegentheil
überzeugt hält? Den Spinoza mußte doch bey allem
seinen Verstande sein trostloses System um alle Freu-
den bringen, welche die Aussicht in die Zukunft giebt.
Und den aufgeklärtesten Weisen des Alterthums, selbst
dem Sokrates, konnte die wankende Hoffnung, und
das Dilemmatische: Entweder glücklich oder nichts! die
innige das ganze Herz ausfüllende Seligkeit nicht ver-
schaffen, die durch die lebhaftere Ueberzeugung von der
Ewigkeit auch bey weit schwächern Seelen bewirkt wird.
Ruhe und Gleichmüthigkeit war das höchste, was jenen
ihr Bewußtseyn innerer Güte geben konnte, das aber
die höchste Stufe der Glückseligkeit nicht ist. Ob man
gleich sonsten wohl behaupten kann, daß die positiven
Vergnügungen, die in lebhaftern Aufwallungen beste-
hen, der kurzen Dauer wegen, im Ganzen für den
Menschen in diesem Leben von einem geringern Werthe
sind, als die sich immer mehr gleichen sanftern ruhigen
Empfindungen.

Wir mögen die Sache von so vielen Seiten ansehen,
als wir wollen, so zeigt sich immer derselbige Ausgang.
So lange allein auf die Glückseligkeit gesehen wird, de-
ren unsere Natur in diesem Leben fähig ist, sind Glück-
seligkeit und die innere Vollkommenheit des Menschen
zwey verschiedene Sachen. Nur die Hinsicht auf eine
Zukunft kann uns berechtigen, beide für einerley zu hal-

ten.

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Geſinnungen, iſt eine natuͤrliche Quelle der Hoffnung;
und das Gefuͤhl von Schwaͤche erzeuget Furcht und
Bosheit. Furcht und Hoffnung wirken wiederum auf
die Vermoͤgen zuruͤck, und machen ſie lebendig. Aber
wie viel haͤngt nicht ab von den zufaͤlligen Kenntniſſen,
Ueberredungen, Einſichten, die durch eine gluͤckliche An-
fuͤhrung eingefloͤßet ſind, und in einem andern Verhaͤlt-
niſſe ihre ſeligen oder unſeligen Wirkungen aͤußern, als
worinn die Verſtandeskraͤfte ſtehen, bey dem Glauben-
den, dem Zweifler und dem, der ſich von dem Gegentheil
uͤberzeugt haͤlt? Den Spinoza mußte doch bey allem
ſeinen Verſtande ſein troſtloſes Syſtem um alle Freu-
den bringen, welche die Ausſicht in die Zukunft giebt.
Und den aufgeklaͤrteſten Weiſen des Alterthums, ſelbſt
dem Sokrates, konnte die wankende Hoffnung, und
das Dilemmatiſche: Entweder gluͤcklich oder nichts! die
innige das ganze Herz ausfuͤllende Seligkeit nicht ver-
ſchaffen, die durch die lebhaftere Ueberzeugung von der
Ewigkeit auch bey weit ſchwaͤchern Seelen bewirkt wird.
Ruhe und Gleichmuͤthigkeit war das hoͤchſte, was jenen
ihr Bewußtſeyn innerer Guͤte geben konnte, das aber
die hoͤchſte Stufe der Gluͤckſeligkeit nicht iſt. Ob man
gleich ſonſten wohl behaupten kann, daß die poſitiven
Vergnuͤgungen, die in lebhaftern Aufwallungen beſte-
hen, der kurzen Dauer wegen, im Ganzen fuͤr den
Menſchen in dieſem Leben von einem geringern Werthe
ſind, als die ſich immer mehr gleichen ſanftern ruhigen
Empfindungen.

Wir moͤgen die Sache von ſo vielen Seiten anſehen,
als wir wollen, ſo zeigt ſich immer derſelbige Ausgang.
So lange allein auf die Gluͤckſeligkeit geſehen wird, de-
ren unſere Natur in dieſem Leben faͤhig iſt, ſind Gluͤck-
ſeligkeit und die innere Vollkommenheit des Menſchen
zwey verſchiedene Sachen. Nur die Hinſicht auf eine
Zukunft kann uns berechtigen, beide fuͤr einerley zu hal-

ten.
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[818/0848] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt Geſinnungen, iſt eine natuͤrliche Quelle der Hoffnung; und das Gefuͤhl von Schwaͤche erzeuget Furcht und Bosheit. Furcht und Hoffnung wirken wiederum auf die Vermoͤgen zuruͤck, und machen ſie lebendig. Aber wie viel haͤngt nicht ab von den zufaͤlligen Kenntniſſen, Ueberredungen, Einſichten, die durch eine gluͤckliche An- fuͤhrung eingefloͤßet ſind, und in einem andern Verhaͤlt- niſſe ihre ſeligen oder unſeligen Wirkungen aͤußern, als worinn die Verſtandeskraͤfte ſtehen, bey dem Glauben- den, dem Zweifler und dem, der ſich von dem Gegentheil uͤberzeugt haͤlt? Den Spinoza mußte doch bey allem ſeinen Verſtande ſein troſtloſes Syſtem um alle Freu- den bringen, welche die Ausſicht in die Zukunft giebt. Und den aufgeklaͤrteſten Weiſen des Alterthums, ſelbſt dem Sokrates, konnte die wankende Hoffnung, und das Dilemmatiſche: Entweder gluͤcklich oder nichts! die innige das ganze Herz ausfuͤllende Seligkeit nicht ver- ſchaffen, die durch die lebhaftere Ueberzeugung von der Ewigkeit auch bey weit ſchwaͤchern Seelen bewirkt wird. Ruhe und Gleichmuͤthigkeit war das hoͤchſte, was jenen ihr Bewußtſeyn innerer Guͤte geben konnte, das aber die hoͤchſte Stufe der Gluͤckſeligkeit nicht iſt. Ob man gleich ſonſten wohl behaupten kann, daß die poſitiven Vergnuͤgungen, die in lebhaftern Aufwallungen beſte- hen, der kurzen Dauer wegen, im Ganzen fuͤr den Menſchen in dieſem Leben von einem geringern Werthe ſind, als die ſich immer mehr gleichen ſanftern ruhigen Empfindungen. Wir moͤgen die Sache von ſo vielen Seiten anſehen, als wir wollen, ſo zeigt ſich immer derſelbige Ausgang. So lange allein auf die Gluͤckſeligkeit geſehen wird, de- ren unſere Natur in dieſem Leben faͤhig iſt, ſind Gluͤck- ſeligkeit und die innere Vollkommenheit des Menſchen zwey verſchiedene Sachen. Nur die Hinſicht auf eine Zukunft kann uns berechtigen, beide fuͤr einerley zu hal- ten.

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 818. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/848>, abgerufen am 22.11.2024.