muß auch nach ihr gestrebet werden. Es giebt ein na- türliches Ziel des Lebens; deßwegen wir doch nicht zu fürchten haben, solches zu überschreiten.
4.
Nach den Grundsätzen des Hr. Rousseau würde die Entwickelung, wobey der Mensch am glücklichsten wäre, wohl aufhören müssen, wenn die thierischen Kräfte und die Sinnlichkeit so weit sind, daß er, sich zu erhalten, als Waldbewohner leben und sein Geschlecht fortpflanzen kann. So niedrig hat Hr. Wieland die Grenze der glücklichsten Ausbildung nicht gesetzt. Der Mensch kann und muß mehr seyn, als ein glückliches Thier. Aber das meinet der letztgenannte vortrefliche Schriftsteller, es gebe doch ein gewisses Maß der in- nern Entwickelung, wenn diese so seyn soll, wie sie zu der höchsten Glückseligkeit, der die menschliche Natur fähig ist, am besten paßt. Die höchste Glückselig- keit, zu der alle Triebe der Natur, alle Bestrebungen, und auch die Wünsche des Herzens, zusammenlaufen, bestehe in dem reinen unthätigen Genuß der sinnli- chen Vergnügungen, den weder Sorgen noch Schmer- zen unterbrechen. Diese Jdee liege in dem Menschen, und sey tief in der Einrichtung seiner Natur gegründet. Was ein entscheidender Beweis davon sey, so dürfe man sich nur erinnern, daß die aufgeklärtesten Völker ihre elyseische Felder, ihre Paradiese und ihre Himmel als einen solchen Zustand vorgebildet haben.
Jst es so, ist Sybarit zu seyn die höchste Glückse- ligkeit des Menschen: so wird es auch möglich seyn, daß er allzu weise und allzu tugendhaft werde, um jener theilhaft zu werden. Darum darf er eben nicht der rohe Sohn der Natur bleiben. Das Wohlseyn im Körper muß besorget, die Gegenstände des Vergnü- gens herbeygeschaffet und der Sinn zum Genuß dessel-
ben
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
muß auch nach ihr geſtrebet werden. Es giebt ein na- tuͤrliches Ziel des Lebens; deßwegen wir doch nicht zu fuͤrchten haben, ſolches zu uͤberſchreiten.
4.
Nach den Grundſaͤtzen des Hr. Rouſſeau wuͤrde die Entwickelung, wobey der Menſch am gluͤcklichſten waͤre, wohl aufhoͤren muͤſſen, wenn die thieriſchen Kraͤfte und die Sinnlichkeit ſo weit ſind, daß er, ſich zu erhalten, als Waldbewohner leben und ſein Geſchlecht fortpflanzen kann. So niedrig hat Hr. Wieland die Grenze der gluͤcklichſten Ausbildung nicht geſetzt. Der Menſch kann und muß mehr ſeyn, als ein gluͤckliches Thier. Aber das meinet der letztgenannte vortrefliche Schriftſteller, es gebe doch ein gewiſſes Maß der in- nern Entwickelung, wenn dieſe ſo ſeyn ſoll, wie ſie zu der hoͤchſten Gluͤckſeligkeit, der die menſchliche Natur faͤhig iſt, am beſten paßt. Die hoͤchſte Gluͤckſelig- keit, zu der alle Triebe der Natur, alle Beſtrebungen, und auch die Wuͤnſche des Herzens, zuſammenlaufen, beſtehe in dem reinen unthaͤtigen Genuß der ſinnli- chen Vergnuͤgungen, den weder Sorgen noch Schmer- zen unterbrechen. Dieſe Jdee liege in dem Menſchen, und ſey tief in der Einrichtung ſeiner Natur gegruͤndet. Was ein entſcheidender Beweis davon ſey, ſo duͤrfe man ſich nur erinnern, daß die aufgeklaͤrteſten Voͤlker ihre elyſeiſche Felder, ihre Paradieſe und ihre Himmel als einen ſolchen Zuſtand vorgebildet haben.
Jſt es ſo, iſt Sybarit zu ſeyn die hoͤchſte Gluͤckſe- ligkeit des Menſchen: ſo wird es auch moͤglich ſeyn, daß er allzu weiſe und allzu tugendhaft werde, um jener theilhaft zu werden. Darum darf er eben nicht der rohe Sohn der Natur bleiben. Das Wohlſeyn im Koͤrper muß beſorget, die Gegenſtaͤnde des Vergnuͤ- gens herbeygeſchaffet und der Sinn zum Genuß deſſel-
ben
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0826"n="796"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">XIV.</hi> Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt</hi></fw><lb/>
muß auch nach ihr geſtrebet werden. Es giebt ein na-<lb/>
tuͤrliches Ziel des Lebens; deßwegen wir doch nicht zu<lb/>
fuͤrchten haben, ſolches zu uͤberſchreiten.</p></div><lb/><divn="3"><head>4.</head><lb/><p>Nach den Grundſaͤtzen des Hr. <hirendition="#fr">Rouſſeau</hi> wuͤrde<lb/>
die Entwickelung, wobey der Menſch am gluͤcklichſten<lb/>
waͤre, wohl aufhoͤren muͤſſen, wenn die thieriſchen<lb/>
Kraͤfte und die Sinnlichkeit ſo weit ſind, daß er, ſich zu<lb/>
erhalten, als Waldbewohner leben und ſein Geſchlecht<lb/>
fortpflanzen kann. So niedrig hat Hr. <hirendition="#fr">Wieland</hi> die<lb/>
Grenze der gluͤcklichſten Ausbildung nicht geſetzt. Der<lb/>
Menſch kann und muß mehr ſeyn, als ein gluͤckliches<lb/>
Thier. Aber das meinet der letztgenannte vortrefliche<lb/>
Schriftſteller, es gebe doch ein gewiſſes Maß der in-<lb/>
nern Entwickelung, wenn dieſe ſo ſeyn ſoll, wie ſie zu<lb/>
der hoͤchſten Gluͤckſeligkeit, der die menſchliche Natur<lb/>
faͤhig iſt, am beſten paßt. Die <hirendition="#fr">hoͤchſte Gluͤckſelig-<lb/>
keit,</hi> zu der alle Triebe der Natur, alle Beſtrebungen,<lb/>
und auch die Wuͤnſche des Herzens, zuſammenlaufen,<lb/>
beſtehe in dem <hirendition="#fr">reinen unthaͤtigen</hi> Genuß der ſinnli-<lb/>
chen Vergnuͤgungen, den weder Sorgen noch Schmer-<lb/>
zen unterbrechen. Dieſe Jdee liege in dem Menſchen,<lb/>
und ſey tief in der Einrichtung ſeiner Natur gegruͤndet.<lb/>
Was ein entſcheidender Beweis davon ſey, ſo duͤrfe<lb/>
man ſich nur erinnern, daß die aufgeklaͤrteſten Voͤlker<lb/>
ihre elyſeiſche Felder, ihre Paradieſe und ihre Himmel<lb/>
als einen ſolchen Zuſtand vorgebildet haben.</p><lb/><p>Jſt es ſo, iſt Sybarit zu ſeyn die hoͤchſte Gluͤckſe-<lb/>
ligkeit des Menſchen: ſo wird es auch moͤglich ſeyn, daß<lb/>
er allzu weiſe und allzu tugendhaft werde, um jener<lb/>
theilhaft zu werden. Darum darf er eben nicht der<lb/>
rohe Sohn der Natur bleiben. Das Wohlſeyn im<lb/>
Koͤrper muß beſorget, die Gegenſtaͤnde des Vergnuͤ-<lb/>
gens herbeygeſchaffet und der Sinn zum Genuß deſſel-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ben</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[796/0826]
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
muß auch nach ihr geſtrebet werden. Es giebt ein na-
tuͤrliches Ziel des Lebens; deßwegen wir doch nicht zu
fuͤrchten haben, ſolches zu uͤberſchreiten.
4.
Nach den Grundſaͤtzen des Hr. Rouſſeau wuͤrde
die Entwickelung, wobey der Menſch am gluͤcklichſten
waͤre, wohl aufhoͤren muͤſſen, wenn die thieriſchen
Kraͤfte und die Sinnlichkeit ſo weit ſind, daß er, ſich zu
erhalten, als Waldbewohner leben und ſein Geſchlecht
fortpflanzen kann. So niedrig hat Hr. Wieland die
Grenze der gluͤcklichſten Ausbildung nicht geſetzt. Der
Menſch kann und muß mehr ſeyn, als ein gluͤckliches
Thier. Aber das meinet der letztgenannte vortrefliche
Schriftſteller, es gebe doch ein gewiſſes Maß der in-
nern Entwickelung, wenn dieſe ſo ſeyn ſoll, wie ſie zu
der hoͤchſten Gluͤckſeligkeit, der die menſchliche Natur
faͤhig iſt, am beſten paßt. Die hoͤchſte Gluͤckſelig-
keit, zu der alle Triebe der Natur, alle Beſtrebungen,
und auch die Wuͤnſche des Herzens, zuſammenlaufen,
beſtehe in dem reinen unthaͤtigen Genuß der ſinnli-
chen Vergnuͤgungen, den weder Sorgen noch Schmer-
zen unterbrechen. Dieſe Jdee liege in dem Menſchen,
und ſey tief in der Einrichtung ſeiner Natur gegruͤndet.
Was ein entſcheidender Beweis davon ſey, ſo duͤrfe
man ſich nur erinnern, daß die aufgeklaͤrteſten Voͤlker
ihre elyſeiſche Felder, ihre Paradieſe und ihre Himmel
als einen ſolchen Zuſtand vorgebildet haben.
Jſt es ſo, iſt Sybarit zu ſeyn die hoͤchſte Gluͤckſe-
ligkeit des Menſchen: ſo wird es auch moͤglich ſeyn, daß
er allzu weiſe und allzu tugendhaft werde, um jener
theilhaft zu werden. Darum darf er eben nicht der
rohe Sohn der Natur bleiben. Das Wohlſeyn im
Koͤrper muß beſorget, die Gegenſtaͤnde des Vergnuͤ-
gens herbeygeſchaffet und der Sinn zum Genuß deſſel-
ben
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 796. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/826>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.