in dem die Reflexion gemacht wird, wie glücklich ein zufriedenes Kind ist, uns selbst schätzbarer zu machen, als die Glückseligkeit in dem Kinde ist, die wir bewun- dern. Wir wünschen die Ruhe und Sorglosigkeit der Kinder und der Wilden; aber wir wollen unsere männ- lichen Kräfte, unsere Kenntnisse und unser Leben des Verstandes behalten. Wir wünschen nicht wiederum Kinder zu werden, noch zu dem Stande der Wildheit zurück. Und wenn uns so ein Wunsch einmal im Ernste entfährt, so ist er ein Ausbruch einer Leidenschaft, in der wir das, was wir wünschen, nur von einer Seite ansehen. Haller besang die Glückseligkeit der Alpen- bewohner. Aber wie groß müßte wohl nicht der Theil der ganzen unbegrenzten Zufriedenheit und des Ver- gnügens seyn, was diese Söhne der Natur genießen, wofür der Dichter die Wollust, sie besungen zu haben, hätte vertauschen sollen, auch ohne ihren Werth durch Einbildung zu vergrößern? Es ist ein Grundsatz, "daß "es nicht die Ruhe, die Schmerzenlosigkeit, oder ein "Gleichmaß der Kräfte und ihrer Wirkungen sey, son- "dern die positive Größe, Stärke und Menge der Em- "pfindungen, die nach dem Abzuge der unangenehmen "Gefühle übrig bleiben, wornach die Größe und die "Stufen der menschlichen Wohlfahrt zu schätzen sind."
3.
Wenn das Maß der menschlichen Vollkom- menheit zugleich das Maß der Glückseligkeit wäre, so fiele die Frage von selbst weg, ob auch die Mensch- heit zu sehr vervollkommnet werden könne, um glücklich zu seyn? Es ist behauptet worden, *) ein gewisser Grad der Entwickelung sey der Menschheit nützlich, aber es
gebe
*)Rousseaudiscours sur l'origine de l'inegalite &c.Wie- land Beyträge zur geheimen Geschichte des Herzens.
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
in dem die Reflexion gemacht wird, wie gluͤcklich ein zufriedenes Kind iſt, uns ſelbſt ſchaͤtzbarer zu machen, als die Gluͤckſeligkeit in dem Kinde iſt, die wir bewun- dern. Wir wuͤnſchen die Ruhe und Sorgloſigkeit der Kinder und der Wilden; aber wir wollen unſere maͤnn- lichen Kraͤfte, unſere Kenntniſſe und unſer Leben des Verſtandes behalten. Wir wuͤnſchen nicht wiederum Kinder zu werden, noch zu dem Stande der Wildheit zuruͤck. Und wenn uns ſo ein Wunſch einmal im Ernſte entfaͤhrt, ſo iſt er ein Ausbruch einer Leidenſchaft, in der wir das, was wir wuͤnſchen, nur von einer Seite anſehen. Haller beſang die Gluͤckſeligkeit der Alpen- bewohner. Aber wie groß muͤßte wohl nicht der Theil der ganzen unbegrenzten Zufriedenheit und des Ver- gnuͤgens ſeyn, was dieſe Soͤhne der Natur genießen, wofuͤr der Dichter die Wolluſt, ſie beſungen zu haben, haͤtte vertauſchen ſollen, auch ohne ihren Werth durch Einbildung zu vergroͤßern? Es iſt ein Grundſatz, „daß „es nicht die Ruhe, die Schmerzenloſigkeit, oder ein „Gleichmaß der Kraͤfte und ihrer Wirkungen ſey, ſon- „dern die poſitive Groͤße, Staͤrke und Menge der Em- „pfindungen, die nach dem Abzuge der unangenehmen „Gefuͤhle uͤbrig bleiben, wornach die Groͤße und die „Stufen der menſchlichen Wohlfahrt zu ſchaͤtzen ſind.“
3.
Wenn das Maß der menſchlichen Vollkom- menheit zugleich das Maß der Gluͤckſeligkeit waͤre, ſo fiele die Frage von ſelbſt weg, ob auch die Menſch- heit zu ſehr vervollkommnet werden koͤnne, um gluͤcklich zu ſeyn? Es iſt behauptet worden, *) ein gewiſſer Grad der Entwickelung ſey der Menſchheit nuͤtzlich, aber es
gebe
*)Rouſſeaudiſcours ſur l’origine de l’inegalité &c.Wie- land Beytraͤge zur geheimen Geſchichte des Herzens.
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XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
in dem die Reflexion gemacht wird, wie gluͤcklich ein
zufriedenes Kind iſt, uns ſelbſt ſchaͤtzbarer zu machen,
als die Gluͤckſeligkeit in dem Kinde iſt, die wir bewun-
dern. Wir wuͤnſchen die Ruhe und Sorgloſigkeit der
Kinder und der Wilden; aber wir wollen unſere maͤnn-
lichen Kraͤfte, unſere Kenntniſſe und unſer Leben des
Verſtandes behalten. Wir wuͤnſchen nicht wiederum
Kinder zu werden, noch zu dem Stande der Wildheit
zuruͤck. Und wenn uns ſo ein Wunſch einmal im Ernſte
entfaͤhrt, ſo iſt er ein Ausbruch einer Leidenſchaft, in
der wir das, was wir wuͤnſchen, nur von einer Seite
anſehen. Haller beſang die Gluͤckſeligkeit der Alpen-
bewohner. Aber wie groß muͤßte wohl nicht der Theil
der ganzen unbegrenzten Zufriedenheit und des Ver-
gnuͤgens ſeyn, was dieſe Soͤhne der Natur genießen,
wofuͤr der Dichter die Wolluſt, ſie beſungen zu haben,
haͤtte vertauſchen ſollen, auch ohne ihren Werth durch
Einbildung zu vergroͤßern? Es iſt ein Grundſatz, „daß
„es nicht die Ruhe, die Schmerzenloſigkeit, oder ein
„Gleichmaß der Kraͤfte und ihrer Wirkungen ſey, ſon-
„dern die poſitive Groͤße, Staͤrke und Menge der Em-
„pfindungen, die nach dem Abzuge der unangenehmen
„Gefuͤhle uͤbrig bleiben, wornach die Groͤße und die
„Stufen der menſchlichen Wohlfahrt zu ſchaͤtzen ſind.“
3.
Wenn das Maß der menſchlichen Vollkom-
menheit zugleich das Maß der Gluͤckſeligkeit waͤre,
ſo fiele die Frage von ſelbſt weg, ob auch die Menſch-
heit zu ſehr vervollkommnet werden koͤnne, um gluͤcklich
zu ſeyn? Es iſt behauptet worden, *) ein gewiſſer Grad
der Entwickelung ſey der Menſchheit nuͤtzlich, aber es
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*) Rouſſeau diſcours ſur l’origine de l’inegalité &c. Wie-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 794. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/824>, abgerufen am 23.02.2025.
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